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Künstliche Schädeldeformationen in der Wikingerzeit

Künstlich verlängerte Köpfe – sogenannte Turmschädel – werden zumeist mit dem Vordringen der Hunnen assoziiert und werden in Europa generell in die Völkerwanderungszeit datiert. Drei Funde von Turmschädeln aus der skandinavischen Wikingerzeit sowie eine Reihe von vergleichbaren Befunden aus dem (süd)osteuropäischen und zentralasiatischen Bereich belegen jedoch ein längeres Fortbestehen dieser Sitte bis in das 11. Jh.

Körpermodifikationen als Zeichen von Identität

Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, durch spezifische Aspekte ihres Aussehens eine bestimmte Identität nach außen zu präsentieren, zumeist durch eine besondere Tracht – Kleidung oder Schmuckattribute –, oder durch Frisuren, die eine Selbstzuweisung zu einem bestimmten Kollektiv und Abgrenzung von allen anderen Gruppen ermöglichte, sei es Sippe, Stamm, Volk oder in der Moderne auch Szene bzw. peer-group. In manchen Fällen geschah und geschieht dies durch permanente Körpermodifikationen wie Tätowierungen, Skarifizierungen oder durch Feilen der Zähne. Eine extreme Form der Körpermodifikation zur Inszenierung einer spezifischen Identität, die in der klassischen Forschung mit der Völkerwanderungszeit verbunden wird, stellen artifizielle Schädeldeformationen dar. Dabei wurden entweder durch eine zirkulär um den Kopf umlaufende Bandagierung oder durch eine Kompression von Vorder- und Hinterhaupt mittels Brettern oder flachen Steinen die elastischen Schädelknochen von kleinen Kindern in den ersten 1–2 Lebensjahren so deformiert, dass der Kopf eine langgezogene, eiförmige Gestalt erhielt; ein sogenannter Turmschädel.

Schematische Darstellung der Bandagierung zur künstlichen Deformierung eines Schädels.
© Matthias Toplak 2018.

Turmschädel als Attribut der Hunnen

Diese Form von Körpermodifikation hat ihren Ursprung vermutlich im neolithischen Vorderasien und breitete sich von dort in den Kaukasus und nach Zentralasien aus. In den Jahrhunderten um Christi Geburt wurde die Schädeldeformation zu einem Charakteristikum der frühen hunnischen Kultur der Kengol-Gruppe in Zentralasien. In Europa traten Schädeldeformationen bereits ab dem 2./3. Jh. auf Gräberfeldern in Ungarn und Rumänien auf, beeinflusst von sarmatisch-alanischen Stämmen, welche die Sitte der Schädeldeformationen vermutlich von den Hunnen übernommen hatten. Mit dem Vordringen der Hunnen nach Europa Ende des 4. Jh. als Auftakt der Völkerwanderung verbreiteten sich Turmschädel – vermutlich assoziiert mit der Vormachtstellung der Hunnen und als modisches Statussymbol – auch unter den germanischen Stämmen in Mitteleuropa. So wurden im 5. und frühen 6. Jh. auf einer Reihe von Gräberfeldern – besonders in Bayern – (ausschließlich) Frauen mit deformierten Schädeln bestattet. Mit dem Ende der Völkerwanderungszeit bzw. dem Niedergang des Hunnenreiches im Laufe des 6. Jh. endete in Mitteleuropa auch sukzessive die Sitte der Schädeldeformierungen, auch wenn in einigen Regionen noch im 7. und frühen 8. Jh. vereinzelte Bestattungen mit Turmschädeln vorkamen.

Wikingerfrauen mit Turmschädeln

Der einhelligen Forschungsmeinung, dass diese Sitte der Körpermodifikationen in Europa mit dem Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter endete, widersprechen die Funde von drei Frauen mit Turmschädeln von gotländischen Gräberfeldern der späten Wikingerzeit. Auf den beiden großen Gräberfeldern von Havor und Ire sowie auf dem kleinen, teilweise zerstörten Gräberfeld von Kvie waren drei erwachsene Frauen mit typisch gotländischer Tracht bestattet worden, deren Köpfe in der Kindheit durch umlaufende Bandagen zu Turmschädeln verlängert worden waren. Trotz der Lage der Gräber zwischen anderen wikingerzeitlichen Bestattungen wurden diese drei Frauen aufgrund ihrer deformierten Schädel – basierend auf der klassischen Zuordnung dieser Sitte in die Völkerwanderungszeit – in das 6. Jh. datiert. Eine genauere Untersuchung dieser drei Gräber und der Trachtbeigaben – bei den beiden Bestattungen von Havor und Ire bestehend aus reichen Fibel- und Schmuckgarnituren – und dem Kontext der Gräberfelder zeigt jedoch eindeutig, dass alle drei Gräber in der zweiten Hälfte des 11. Jh. angelegt worden sein müssen.

Der Schädel einer etwa 55–60 Jahre alten Frau von dem Gräberfeld von Havor, Kirchspiel Hablingbo, auf Gotland, wurde künstlich zu einem Turmschädel verlängert.
© Johnny Karlsson/SHM.

Eine langlebige Tradition

Zudem lassen sich mehrere Fälle von artifiziell deformierten Schädel aus dem Zeitraum um das 10./11. Jh. aus Ost- und Südosteuropa nachweisen; ein deformierter Frauenschädel wurde auf einem Gräberfeld des bedeutsamen Handelsplatzes von Wolin am Stettiner Haff im heutigen Polen gefunden und kann in die Mitte des 11. Jh. datiert werden, ebenso wie ein Kinderschädel vom Burgwall von Devín, nahe dem heutigen Bratislava in der Slowakei. Aus Bulgarien sind eine Reihe von deformierten Frauen- und Männerschädel von protobulgarischen Gräberfeldern des 8./9. Jh. bekannt, vereinzelte Funde datieren bis in das 11. Jh. Aus dem mittelasiatischen Raum – Choresmien südlich des Aral-Sees – ist die Sitte der artifiziellen Schädeldeformation durch umlaufende Bandagierungen – wie bei den drei Fällen aus Gotland – aus den literarisch-geografischen Werken mehrerer arabischer Reisender aus dem 10. und 12. Jh. bekannt.

Die Nutzung von Schädeldeformierungen als modisches Statussymbol oder zur Präsentation einer bestimmten (ethnischen?) Identität scheint demnach nur in Westeuropa mit dem Beginn des Frühmittelalters geendet zu haben, wohingegen diese Sitte im osteuropäischen und mittelasiatischen Bereich bis in das Hochmittelalter hinein üblich blieb. Die neuesten naturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Herkunft der Turmschädel aus den bajuwarischen Gräberfeldern der Völkerwanderungszeit deuten auf eine fremde Herkunft der Frauen aus dem südosteuropäischen Raum hin, obwohl sie nach lokalen Bestattungssitten und in lokaler Tracht beigesetzt worden waren. Ausgehend von diesen Befunden muss darüber spekuliert werden, ob auch die drei Frauen mit Turmschädeln von den gotländischen Gräberfeldern möglicherweise aus dem südosteuropäischen oder mittelasiatischen Raum nach Gotland zugewandert sein können. Enge Handelsverbindung zwischen Skandinavien und besonders Gotland in die osteuropäischen Gebiete und bis hinunter in das Schwarze und das Kaspische Meer sind für die Wikingerzeit durch archäologische Funde wie auch historische Quellen gut belegt.

Zeichnung des Grabes der Frau mit deformiertem Schädel von den Gräberfeld von Havor, Kirchspiel Hablingbo, auf Gotland.
© SHM/ATA.
Künstlerische Rekonstruktion des Grabes von Havor.
© Mirosław Kuźma/Matthias Toplak.

Eingeheiratete Frauen aus dem Osten?

Die sichere Datierung der drei gotländischen Turmschädel in die späte Wikingerzeit widerlegt zum einen – zusammen mit den aufgeführten Parallelbefunden – die klassische Forschungsthese, dass die Sitte der Schädeldeformationen mit Beginn des Frühmittelalters in Europa endete. Zum anderen können die Funde – ausgehend von der Vermutung, dass es sich bei den Frauen nicht um einheimische Gotländerinnen gehandelt hat – als ein Hinweis auf enge Verbindungen Gotlands zum (süd)osteuropäischem und möglicherweise sogar zum zentralasiatischen Raum gesehen werden, die über reine Handelskontakte hinausgingen und individuelle Mobilität über eine lange Distanz ermöglichten.

Die Tote aus Havor war neben anderen Schmuckbeigaben mit vier der für die gotländische Frauentracht typischen Tierkopffibeln beigesetzt worden.
© Bertha Amaya/SHM.