Die Entdeckung und Besiedlung Grönlands gegen Ende des 10. Jh. stellt die letzte große Landnahme der Wikingerzeit dar, für einige Jahrhunderte schienen die Siedlungen der Nordmänner zu prosperieren und von Grönland wurde um das Jahr 1000 Nordamerika entdeckt. Ab dem 14. Jh. rissen jedoch die Kontakte zur alten Heimat in Island und Norwegen ab und bereits wenig später scheinen die Siedlungen verlassen worden sein – die Nordmänner auf Grönland verschwanden aus dem Bewusstsein der Welt.
Um das Jahr 986 n. Chr. besiedelten Wikinger unter Führung des ebenso berühmten wie berüchtigten Erik dem Roten (Eirík hinn rauði) von Island aus Grönland, die größte Insel der Welt. Island war erst etwa ein Jahrhundert zuvor von Norwegen aus besiedelt worden, aber bereits gegen Ende des 10. Jh. prägten Überpopulation, Missernten und Hungersnöte den Wunsch nach neuem Siedlungsraum. Auf Grönland trafen die isländischen Siedler auf unbesiedeltes Land und natürliche Ressourcen wie Fisch, Karibu und Robben im Überfluss. Zudem bot sich ihnen Zugang zu wertvollen Luxusgütern wie Walrosselfenbein, Narwalzähnen und Polarbärenfellen, die mit viel Gewinn auf den europäischen Märkten verkauft werden konnten.
Für etwa 200 Jahre prosperierte die isländische Kolonie auf Grönland, die klimatisch günstigen Gebiete wurden besiedelt und es bildeten sich zwei Siedlungen mit insgesamt etwa 2000 Einwohnern, die Ostsiedlung im Bereich des heutigen Qaqortoq und die Westsiedlung um die heutige Hauptstadt Nuuk. Ab der Mitte des 12. Jh. erhielt Grönland ein eigenes Bistum und eine Kathedrale in Garðar, über ein Dutzend Steinkirchen mit Glasfenstern und Glocken sowie zwei Klöster kündeten vom Wohlstand der grönländischen Gesellschaft.
Das Ende der nordischen Kolonien
Ab dem 14. Jh. rissen die Kontakte nach Island und Norwegen jedoch plötzlich ab. Als in den Jahren nach 1327 die Kirchensteuern der Westsiedlung an das Erzbistum in Niðarós in Norwegen ausblieben, wurde der Priester Ívar Bárðarson nach Grönland geschickt. 1346 besuchte Bárðarson die Westsiedlung Grönlands, fand dort aber nur noch verlassenene Höfe vor. Isländische Annalen erwähnen für 1408 noch die Hochzeit eines isländischen Kapitäns in der Kirche von Hvalsey in der Ostsiedlung, danach geriet die grönländische Kolonie in Vergessenheit. Einzelne Expeditionen und gelegentlich anlandende Walfänger trafen im 16. und 17. Jh. nur noch auf Inuit, fanden aber außer steinernen Ruinen keine Hinweise auf die nordischen Siedler vor.
Die möglichen Ursachen für den lautlosen Untergang der grönländischen Siedlungen im 15. Jh. werden seit der Wiederentdeckung und wissenschaftlichen Untersuchung der Ruinen im 18. Jh. umfangreich diskutiert und teilweise mit abstrusen Argumenten belegt. So wurde postuliert, dass die nordischen Siedler trotz des arktischen Klimas der Mode Zentraleuropas gefolgt und so schlicht nicht überlebensfähig gewesen wären. Kleidung nach der höfischen Mode des 15. Jh. fand sich tatsächlich in vielen Bestattungen auf dem grönländischen Friedhof von Herjólfsnes, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die von Island stammenden Siedler sich durchaus der Witterung anzupassen wussten.
In der heutigen Forschung wird eine Kombination verschiedenster ökologischer, ökonomischer und sozialer Faktoren als Ursache für eine sukzessive Entvölkerung der nordischen Siedlungen auf Grönland angenommen, die als ‚large scale historical processes‘ teilweise weit außerhalb der Reichweite der grönländischen Gesellschaft lagen.
Klimaeinbruch und die ‚Kleine Eiszeit‘
Maßgeblichen Einfluss hatte mit Sicherheit der Klimaeinruch der kleinen Eiszeit am Ende des mittelalterlichen Klimaoptimums ab dem Beginn des 13. Jh. Die Temperaturen sanken, das Klima wurde trockener und windiger. Stürme und Treibeis vor der grönländischen Küste nahmen zu, behinderten Fischfang und Seefahrt, vertrieben die Robbenpopulationen, die eine wesentliche Nahrungsquelle der nordischen Siedler darstellten und reduzierten Treibholz an den Küsten, was aufgrund des geringen Baumbestandes auf Grönland unverzichtbar für den Bau von Häusern und die Reparatur von Schiffen war. Der drastische Anstieg des Meeresspiegels reduzierte das verfügbare Weideland, ebenso wie eine zunehmende Versalzung der Böden durch einen erhöhten Gehalt von Sodium im Meereswasser. Eine zunehende Erosion des Weidelandes, bedingt durch eine exzessive Abholzung des geringen Baumbestandes verstärkte diese durch die Klimaverschlechterung bedingten Entwicklungen.
Archäozoologische Analysen an dem Knochenmaterial der Nutztiere aus einigen Gehöften belegen diese verschlechterten Lebensbedingungen. Rinder als klassische Fleischlieferanten wurden zunehmend durch genügsamere Schafe und vor allem Ziegen ersetzt, die weniger Weideflächen benötigen, da sie auch hölzernes Gewebe verdauen können. Dies zeigen Kotreste von Ziegen aus einem Hof der Westsiedlung, die bis zu 98% Birkenzweige enthalten, welche vermutlich als Notfutter aufgrund des Mangels an Weideflächen verfüttert wurden. Übermäßige Abnutzungserscheinungen an den Kauflächen der Zähne von Schafen und Ziegen deuten zudem auf stark sanddurchsetzes Futter aufgrund der zunehmenden Bodenerosion hin. Zudem gewannen Robben als Nahrungsressource zunehmend an Bedeutung. Die in den Abfallhaufen einiger Höfe gefundene hohe Anzahl von Robbenknochen deutet darauf hin, dass die Nahrung der Bewohner bis zu 80% aus Robbenfleisch bestanden hat.
Elfenbein aus Afrika und der Rückgang der Handelskontakte
Auch der Einbruch der Handelskontakte führte zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensbedingungen der Siedler. Ursache dafür waren zum einen die verschlechterten klimatischen Bedingungen wie zunehmende Stürme und Treibeis, die Navigation und Seefahrt erschwerten. Zum anderen stagnierte auf dem europäischen Markt die Nachfrage nach Walrosselfenbein aufgrund des in Folge der Kreuzzüge günstiger und einfacher erhältlichen Elefantenelfenbeins aus Afrika. Dieser fehlende Absatzmarkt für arktische Luxusgüter reduzierte die wirtschaftliche Bedeutung Grönlands für Europa und Island bzw. Norwegen, was im Verbund mit der zunehmend gefährlicheren Schifffahrt zu einer Stagnation der regelmäßigen Handelsverbindungen führte. Die Folgen waren drastisch, die grönländischen Siedler waren abhängig vom Import von Bauholz für die Instandhaltung ihrer Schiffe und von Eisen für jede Art von Werkzeugen. Zudem führte die zunehmende Isolation der Kolonien vom Mutterland Island bzw. Norwegen zu einer sozialen, politischen und religiösen Stresssituation.
Konflikte mit den Inuit
Die verschlechterten klimatischen Bedingungen beeinträchtigten nicht nur die Lebensbedingungen der nordischen Siedler sondern auch die der Inuit der Thule-Kultur, die um 1200 n. Chr. von der kanadischen Arktis aus Nordgrönland erreichten und ihren Lebensraum sukzessive nach Süden erweiterten. Funde und einzelne Schriftquellen belegen Kontakte zwischen nordischen Siedlern und den zahlenmäßig weit überlegenen und besser an das Leben in der Arktis angepassten Inuit und es muss ebenso von gelegentlichen friedlichen Handelstreffen wie von gewalttätigen Konflikten besonders in den von beiden Gemeinschaften genutzen nördlichen Jagdgebieten im Bereich der Disko Bay ausgegangen werden. Die genaue Form und Intensität dieser Kontakt ist nicht klar, aber für etwa 200 Jahre koexistierten nordische Siedler und Inuit und eine Konkurrenzsituation um Ressourcen und Lebensraum ist wahrscheinlich.
Die De-Kolonialisierung als logische Konsequenz
Die Aufgabe der nordischen Kolonien auf Grönland erscheint aufgrund der durch verschiedenste Faktoren erschwerten Lebensbedingungen damit als logische Konsequenz. Die ursprünglichen Ursachen, die eine Besiedlung attraktiv erscheinen ließen, hatten sich umgekehrt. Während auf Grönland Siedlungsraum und Ressourcen knapp geworden waren, waren Island und Norwegen durch Pest und Landflucht massiv entvölkert, so dass in den ursprünglichen Herkunftsländern der Grönländer ausreichend Land mit besseren Lebensbedingungen zur Verfügung stand und oftmals auch noch familiäre oder rechtliche Verbindungen und Ansprüche existierten, die eine Rückkehr der Siedler forcierten.
Es ist daher anzunehmen, dass die Aufgabe der nordischen Siedlungen auf Grönland kein plötzlicher Kollaps war, sondern ein sukzessiver Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzog und eine rationale Reaktion auf neue ökologische, ökonomische wie soziale Voraussetzungen darstellte.
Zuerst veröffentlicht in der 'Archäologie in Deutschland' 01/2017, S. 58–61.