Der archäologische Hintergrund
In einem ausnehmend reich ausgestatteten und exponiert liegenden Kammergrab eines Gräberfeldes der bedeutenden Handelssiedlung von Birka in Schweden war der Verstorbene mit voller Kriegsausstattung und in aufwändiger Tracht bestattet worden. Neben zwei Pferden, Reitzubehör, Spielsteinen für ein Brettspiel und Würfeln sowie aufwendigen Trachtelementen, die Verbindungen in den östlichen Raum der russischen Steppe aufzeigen, war dem Toten eine vollen Waffenausstattung mit ins Grab gegeben worden, bestehend aus Schwert, Axt, Hiebmesser, zwei Speerspitzen, Pfeilen und zwei Schilden. Über ein Jahrhundert lang galt das Kammergrab Bj 581 – so die wissenschaftliche Nummerierung – als letzter Ruheplatz eines hochrangigen Kriegers, möglicherweise sogar eines Heerführers. Nicht nur die volle Waffenausrüstung und die wertvolle, aus dem Osten importierte Tracht, die das Grab zu einer der herausragendsten Bestattungen der über 1.000 archäologisch erforschten Gräber von Birka machen, künden von der Bedeutung und dem hohen Stand des bestatteten Individuums. Auch die exponierte Lage des Grabes direkt zwischen Siedlung und Hafen und unterhalb der Fliehburg von Birka mit dem großen Hallengebäude, das als Garnison der Krieger interpretiert wird, weist auf die besondere Stellung der hier bestatteten Person. Möglicherweise war das Grab, über dem anders als bei vielen der Gräber von Birka kein Hügel errichtet wurde, durch einen enormen, über 4 Meter hohen Findling markiert, der bei der Ausgrabung auf dem eingedrückten Dach der Grabkammer gelegen hatte. Das Grab wäre mit dieser Markierung von See bereits von Weitem zu sehen gewesen, was erneut den einzigartigen Charakter von Bj 581 unterstreicht, den der Ausgräber Hjalmar Stolpe schon 1879 in seinem Tagebuch vermerkte. Diese Bestattung entsprach damit dem Idealbild eines Wikingergrabes, in dem ein Angehöriger einer sozialen Elite – möglicherweise aus dem Umfeld des lokalen Herrschers – mit allen Attributen eines vollbewaffneten hochrangigen Kriegers beigesetzt worden war.
Die Untersuchungen eines schwedischen Forscherteams führten jedoch zu einer Sensation. Mittels DNA-Untersuchungen konnten sie eine bereits seit längerem kursierende, auf anthropologischen Untersuchungen basierende Vermutung bestätigen, dass es sich bei dem Toten in diesem reichen Kammergrab um eine Frau handelt. Dieses überraschende Ergebnis stellt den ersten naturwissenschaftlich gesicherten Beleg dar, dass in der Wikingerzeit auch Frauen mit kompletter Bewaffnung beigesetzt worden sein konnten. Zudem ist das ‚Kriegerinnen‘-Grab aus Birka in einem weiteren Aspekt bisher einzigartig. Während in den meisten bekannten Gräbern, in denen mit Sicherheit Frauen mit Äxten oder Speeren beigesetzt worden waren, weisen die übrigen Trachtelemente im Grab darauf hin, dass die Toten auch wie Frauen gekleidet waren, sie also nicht nur biologische Frauen waren (das biologische Geschlecht/sex), sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Rolle (das soziale gender) als solche gesehen wurden. Im Falle des Birka-Grabes hingegen wurde das biologisch weibliche Individuum nicht als Frau, sondern offensichtlich als Mann beigesetzt, wie die Elemente der Männertracht im Grab – Ringfibel, langer Reiterkaftan und Verzierungen einer Mütze – zeigen.
Kinderkrieger und Gräber als ‚Zerrspiegel des Lebens‘
Die neuen Ergebnisse zu dem Kammergrab von Birka sind zweifelsohne sensationell, geben sie doch Anlass zu der Vermutung, hier erstmals eine der legendären Schildmaiden entdeckt zu haben – eine Frau, die vollbewaffnet und gekleidet wie ein Mann nicht nur am Kampf teilnahm, sondern nach Aussage der Grabbeigaben auch noch eine hohe Stellung innehatte, möglicherweise sogar einen militärischen Rang. Allerdings ist die Beigabe von Waffen alleine kein sicherer Beleg für eine tatsächliche Kriegeraktivität zu Lebzeiten.
Die traditionelle Archäologie interpretierte Bestattungen lange Zeit eindimensional als ‚Spiegel des Lebens‘, in denen sich durch die Grabbeigaben die konkrete soziale, religiöse und kulturelle Realität manifestierte. Waffen in Gräbern wurden daraus folgend als Hinweis für eine Kriegeridentität des Toten gedeutet. Heute nimmt die Forschung jedoch an, dass Bestattungen einen ‚Zerrspiegel des Lebens‘ darstellen, und nicht per se die Realität abbilden, sondern in ihnen bestimmte Vorstellungen einer idealisierten Realität inszeniert werden. Das bedeutet im konkreten Fall, dass die Beigabe von Waffen nicht zwangsläufig darauf hinweist, dass der oder die Verstorbene zu Lebzeiten ein Krieger gewesen ist, sondern dass die Waffen – ausgehend von ihrer Funktion zur Gewaltausübung – als ein Symbol für Macht und Status mit in das Grab gegeben wurden. Allein schon die Bestattungen von kleine Jungen mit Waffen, die viel zu groß und zu schwer waren, als dass sie hätten gehoben oder auch nur ernsthaft im Kampf hätten geführt werden können, die aus der Wikingerzeit ebenso bekannt sind, wie bspw. aus der südwestdeutschen Merowingerzeit, belegen diesen Umstand nachdrücklich.
Hinweise auf eine tatsächliche Kriegertätigkeit können sich viel eher im Knochenmaterial fassen lassen, durch (verheilte) Frakturen oder andere Anzeichen von Gewalteinwirkung, die auf eine Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen schließen lassen. Ein Beispiel dafür ist der Tote aus dem Schiffsgrab von Gokstad, der durch einen Stich in den Oberschenkel ums Leben kam, wahrscheinlich eine Kampfverletzung, die belegt, dass er nicht nur als Krieger bestattet worden war, sondern auch als Krieger gelebt hatte. Auch besonders stark ausgeprägte Muskelansätze an Schultern und Oberarmen, die auf eine regelmäßige Belastung der beim Kampf genutzten Muskulatur schließen lassen oder pathologische Veränderungen an Hüft- und Beinknochen, die auf häufiges Reiten hinweisen, können als Indikatoren für eine aktive Kriegertätigkeit gedeutet werden. Lassen sich diese anthropologischen Befunde zudem noch durch Waffenbeigaben – möglicherweise mit deutlichen Abnutzungsspuren an den Waffen – ergänzen, kann wissenschaftlich fundiert davon ausgegangen werden, dass das jeweilige Individuum zu Lebzeiten tatsächlich als Krieger in die Schlacht gezogen ist, wie bei dem Mann von Gokstad.
Bei der Toten aus dem Kammergrab von Birka ließen sich an den Knochen keine Spuren von Gewalteinwirkung nachweisen. Damit ist eine aktive Rolle als Kriegerin zu Lebzeiten nicht zwangsläufig widerlegt. Es ist durchaus möglich, dass sie in einer kommandieren Funktion nie an aktiven Kampfhandlungen beteiligt war oder vielleicht sogar einfach nur nie ernsthaft verletzt wurde. Aber genauso wie bei waffenführenden Männergräbern muss ausgehend von dem enorm hohen Symbolwert von Waffen in der wikingerzeitlichen (und generell nahezu allen vor- und frühgeschichtlichen) Gesellschaften die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass es sich bei der Grabausstattung um eine symbolische Inszenierung für das Jenseits handeln könnte, die nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der sozialen Lebensrealität ist.
Waffen als Machtmetaphern
Die hohe symbolische Bedeutung von Waffen scheint jedenfalls die wahrscheinlichste Erklärung für das vereinzelte Vorkommen von Äxten und Speeren in Frauengräbern bzw. für die Abbildungen von waffentragenden Frauen zu sein. Waffen können in Frauengräbern als ein Symbol für den gesellschaftlichen Status der Frau selber oder ihrer Angehörigen gewertet werden, möglicherweise auch für den Anspruch auf eine Führungsposition. Dieser Interpretationsansatz kann natürlich auch für das Kammergrab Bj 581 vorgebracht werden. Durch die Bestattung der Frau als männlicher, hochrangiger Krieger könnte so ihr hoher sozialer Status bzw. die Zugehörigkeit zu einer sich über das Ideal des vollbewaffneten Reiterkriegers definierende Elite herausgestellt werden. Möglicherweise war sie auch nach dem Tod der männlichen Angehörigen das Oberhaupt der Familie und musste daher zumindest theoretisch die Rolle eines Kriegers übernehmen (bzw. im Tod so dargestellt werden). Allerdings weicht der Befund des Grabes der ‚Kriegerin‘ von Birka von dem üblichen Bild der wenigen bekannten waffenführenden Frauengräber durch mehrere Faktoren ab. Sie wurde nicht nur mit einer, als symbolisch zu erklärenden, Waffe bestattet, sondern gleich mit einer vollen, funktionalen Ausstattung eines hochrangigen, berittenen Kriegers. Zudem lag ihr Grab in auffälliger Nähe zu der sogenannten Garnison mit dem großen Langhaus, das aufgrund der enormen Anzahl von militärischen Funden als Halle der Krieger von Birka gedeutet wird. Und nicht zuletzt wurde die ‚Kriegerin‘ von Birka eben nicht als Frau, sondern in der Kleidung eines Mannes bestattet, so dass eine rein symbolische Bedeutung ihrer Kriegsausstattung weniger wahrscheinlich wirkt, als eine einzelne Axt in einem ansonsten typischen Frauengrab.
Ein notwendiger ‚Bildersturm‘ in der wikingerzeitlichen Archäologie?
Die neuen Forschungsergebnisse zu dem Kammergrab Bj 581 von Birka sind jedoch möglicherweise das Fanal für eine gänzlich veränderte Sichtweise auf den Mythos der Schildmaiden. Allerdings ist das Grab der ‚Kriegerin‘ von Birka in dieser extremen, spektakulären Ausprägung – die volle Bewaffnung, die Kleidung als Mann, die elaborierte Lage und Markierung des Grabes – bisher ein absoluter Einzelfall und daher enorm schwierig zu deuten. Handelte es sich bei der darin bestatteten Frau um eine Ausnahme in der wikingerzeitlichen Gesellschaft, die aufgrund besonderer sozialer Umstände in dieser Form – als männlicher Krieger – inszeniert werden musste, weil sie eine konkrete Führungsrolle übernommen hatte, die sonst nur Männern zustand? Wie bereits angesprochen spiegelt die Beigabe von Waffen nicht zwangsläufig auch eine reale Kriegertätigkeit zu Lebzeiten, weder bei Frauen noch bei Männern und so kann auch das Kammergrab von Birka eine rein symbolische Inszenierung darstellen. Oder war sie tatsächlich als Frau ein Krieger, eine besondere Ausnahme aufgrund unklarer Bedingungen, möglicherweise sozialer, kultischer oder auch biologischer Natur? Wurde sie von der Gesellschaft als weibliche Kriegerin wahrgenommen, wie es ihrem biologischen Geschlecht (sex) entsprach, oder vielleicht doch eher als sozialer Mann (gender)?
Dem aktuellen Forschungsstand nach handelte es sich zumindest bei der Form der Bestattung der ‚Kriegerin‘ von Birka (noch) um eine Ausnahme und die Deutung, ob sie nur symbolisch als männlicher Krieger bestattet wurde oder auch so gelebt hatte, ist bislang nichts als pure Spekulation. Zwar berichtet der byzantinische Geschichtsschreiber Johannes Skylitzes in seiner Ende des 11. Jahrhunderts verfassten Chronik davon, dass nach einer Niederlage der Rus-Wikinger gegen die byzantinischen Truppen im Jahr 971 auf dem Schlachtfeld auch wie Männer bewaffnete nordische Frauen unter den Toten gewesen wären. Aber abgesehen von wenigen späteren und quellenkritisch problematischen Überlieferungen zu Frauen im Kontext von Kriegs- und Raubzügen, finden sich für diese Aussage bisher keine weiteren sicheren Belege.
Auch fehlen bislang Parallelen zum Grab der ‚Kriegerin‘ von Birka. In den übrigen anthropologisch oder genetisch untersuchten ‚Kriegergräbern‘, in denen die Toten mit funktionaler Bewaffnung und in männlicher Tracht bestattet wurden, lagen ausschließlich Männer. Die neuen Untersuchungen an zwei möglichen Ausnahmen – zwei Gräber aus Norwegen, in denen die bestatteten Individuen anthropologisch als weiblich bestimmt wurden – haben widersprüchliche Ergebnisse erbracht und werden derzeit diskutiert. Möglicherweise spiegeln diese archäologischen Befunde jedoch nicht ganz die reale Verteilung. Besonders in der älteren Forschung wurde das Geschlecht der Bestatteten üblicherweise anhand der Beigaben bestimmt, wonach Waffen ausschließlich Männern mitgegeben wurden und auch Schmuck- und Trachtelemente einer stringenten Trennung nach Geschlecht unterliegen. Damit fielen jedoch zwangsläufig auch nur die Bestattungen auf, in denen Frauen zwar in Frauentracht aber mit einzelnen Waffen beigesetzt wurden, nicht aber Bestattungen wie das Grab der ‚Kriegerin‘ von Birka, in denen Frauen als Männer mit Bewaffnung lagen. Diese klassische sogenannte archäologische Geschlechtsbestimmung ausgehend von der Annahme einer absoluten Gleichsetzung von sex und gender ist zumindest für die skandinavische Wikingerzeit zum überwältigen Teil zutreffend, wie die überwiegende Mehrheit der modern untersuchten Gräber aufzeigt. Aufgrund der oftmals schlechten Knochenerhaltung in vielen Regionen Skandinaviens und den aus Zeit- und Kostengründen häufig fehlenden anthropologischen und genetischen Analysen kann allerdings auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass auch einige weitere Frauenbestattungen wegen der Beigabe von Waffen und dem Fehlen typisch weiblicher Trachtelemente respektive dem Vorhandensein männlicher Kleidungsattribute fälschlicherweise als Männergräber interpretiert wurden. Dadurch werden der Forschung unter Umständen einige abweichende und spannende Befunde ähnlich dem Kammergrab Bj 581 von Birka entgangen sein können.
Ungeachtet der Tatsache, ob weitere Befunde dieser Art in den nächsten Jahren entdeckt werden und sich die bislang als Fantasie abgetanen historisch-literarischen Berichte zu den Schildmaiden oder den toten Rus-Kriegerinnen als tatsächlich wahr entpuppen, stellen die neuen Forschungsergebnisse zum Grab der ‚Kriegerin‘ von Birka in jedem Fall mehr als hundert Jahre Wissen über die Rolle der Frau in der Wikingerzeit auf den Kopf, auch wenn sie noch kein Beleg dafür sind, dass Frauen tatsächlich vereinzelt oder sogar regelmäßig als Krieger gekämpft haben können. Es wäre jedoch unwissenschaftlich, beim gegenwärtigen Forschungsstand davon auszugehen, dass mittels moderner, naturwissenschaftlicher Untersuchungen in Zukunft nicht doch noch weitere Frauenbestattungen mit Waffen – und möglicherweise auch wie bei dem Grab von Birka mit einer vollen Kriegerausrüstung und in männlicher Tracht – entdeckt werden, die uns zwingen, unser Bild von der Wikingerzeit zu überdenken. Es ist jetzt an der akademischen Welt, das komplexe Bild rund um die Bestattung der ‚Kriegerin‘ von Birka ausgiebig und im kritischen wissenschaftlichen Diskurs zu analysieren und zu interpretieren und ergebnisoffen nach neuen (archäologischen) Belegen für oder gegen die Existenz von schwertschwingenden Schildmaiden in der Wikingerzeit zu forschen.