Der Aktionsradius des Kulturraumes der Wikinger erstreckte sich fast über die gesamte damals bekannte nördliche Hemisphäre – von der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents ganz im Westen über Grönland, Island, die Inseln im Nordatlantik und die britischen Inseln bis zu den Heimatländer in Skandinavien und vom Baltikum und die Flusssysteme Osteuropas durch die Wälder Nordrusslands und die osteuropäische Tiefebene bis zum Kaspischen Meer im Osten. Im Süden gelangten die Wikinger über die Flüsse Mitteleuropas – Rhein, Maas, Mosel, Seine und Elbe – bis tief hinein in das fränkische bzw. später sächsische Reich im heutigen Deutschland und Frankreich, entlang der atlantischen Küste zur iberischen Halbinsel und in das Mittelmeer sowie über Dnjepr und Wolga im Osten bis nach Konstantinopel – das heutige Byzanz – und zu den arabischen Kalifaten mit der Hauptstadt Bagdad in Vorderasien. Archäologische Funde belegen, dass bereits vor der Wikingerzeit regelmäßige und intensive Handelskontakte zwischen Skandinavien und Zentraleuropa existierten, aber mit den Expansionsbewegungen der Wikinger etablierten sich weit verzweigte Handelsnetzwerke, die bis in die arabische Welt reichten.
Diese für mittelalterliche Verhältnisse enorme Mobilität, die Abenteuerlust und Neugier, welche – ermöglicht durch einzigartige Innovationen in der Schiffsbautechnik und seefahrerisches Können – die Wikinger zu ‚global players‘ ihrer Zeit machten, ist sicherlich in hohem Maße mit verantwortlich für die enorme Faszination, die auch (oder vielleicht gerade) in der modernen, schnelllebigen und digital wie verkehrstechnisch eng vernetzten Welt von den Wikinger ausgeht.
Von ihren Heimatländer in Nordeuropa, von den heute zu Deutschland gehörenden Gebieten um Schleswig auf der jütländischen Halbinsel, den dänischen Inseln, dem dicht bewaldeten Süd- und Mittelschweden und den norwegischen Küstengebieten bis zu der Inselgruppen der Lofoten nördlich des Polarkreises, erschlossen sich die Wikinger mit ihren ebenso wendigen, schnellen und hochseetauglichen wie eleganten Schiffen vier Kontinente. Die Strapazen, die sie bei den teilweise wochenlangen Reisen über den offenen Atlantik oder die Flusssysteme Osteuropas wissentlich in Kauf nahmen, lassen sich heute kaum noch ermessen. Die Schiffe der Wikinger waren offen, das heißt, es gab kein Unterdeck, in dem man bei schlechtem Wetter Schutz suchen konnte. Wurde bei Fahrten entlang der Küste oder auf Flüssen die Nacht zumeist an Land verbracht, spielte sich bei Reisen über die offene See, bspw. von Norwegen nach Island, das gesamte Leben der Besatzung für Tage – oder bei schlechtem Wind auch für Wochen – auf wenigen Quadratmetern Deck ab, nur durch das kaum einen Meter hohe Dollbord vom Meer getrennt. Im Rahmen der Landnahme der Inseln im Nordatlantik – Shetland, Orkneys, Färöer, Island und Grönland – transportierten die Wikinger auch ihre gesamte Habe mit auf den Schiffen, ihren Hausrat und oftmals auch das Vieh. Auf Island war vor der Ankunft der Wikinger in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhundert der Polarfuchs das größte Landsäugetier, alle anderen Tiere – Rinder, Schweine, Schafe, Pferde – kamen erst mit den nordischen Siedlern auf den offenen Schiffen in tagelanger beschwerlicher Reise nach Island. Von der Besiedlung Grönlands heißt es in den späteren literarischen Quellen, dass von 25 Schiffen, die im Jahr 986 nach Christus von Island aufbrachen, nur 14 Schiffe die grönländische Küste erreichten. Ob diese Zahlen so wirklich stimmen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, und es wird in den Quellen auch nicht darüber berichtet, ob die übrigen Schiffe verschollen gingen, oder vom Kurs abgekommen nach Island zurückkehrten oder an anderer Stelle an Land gingen. Möglicherweise sollte die hohe Zahl von Verlusten die Gefahr der Reise nach Grönland illustrieren und die Strapazen, welche die Siedler auf sich genommen hatten, und damit den Anspruch der isländischen Auswanderer auf das neue Land legitimieren. Vermutlich aber werden diese Zahlen nicht unrealistisch gewesen sein. Trotz des seefahrerischen Könnens und der Schiffsbautechnik der Wikinger waren die offenen und verhältnismäßig schmalen und flachgängigen Schiffe – selbst die großen hochseetauglichen Schiffe, wie bspw. das Schiffswrack 1 von Skuldelev, waren kaum 5 Meter breit und hatten einen Tiefgang von maximal einem Meter – anfällig für schweren Seegang und Sturm. Es ist nur schwer vorstellbar, welches Chaos bei heftigem Unwetter auf einem Schiff geherrscht haben mag, wenn mehrere Meter hoch schlagende Wellen und peitschender Regen das Deck unter Wasser setzen und Ladung wie Menschen und Tiere von Bord zu spülen drohen, der Sturm das Segel zerfetzt und die Besatzung verzweifelt versucht, das Schiff auf Kurs zu halten, während Rinder und Pferde in Panik geraten. Unter diesen Umständen lässt sich die seefahrerische Leistung und der scheinbar unbrechbare Willen der Wikinger nicht hoch genug einzuschätzen.
Die Kolonialisierung des Nordatlantik
Von Norwegen aus wurden ab dem Ende des 8. und in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts die Inseln im Nordatlantik besiedelt. Bereits ab der Mitte des 8. Jahrhunderts sind Überfälle von Wikingern auf piktische Siedlungen auf den Orkneys überliefert und es ist davon auszugehen, dass die Inseln anfangs als Winterlager für die Überfälle auf die britischen Inseln genutzt wurden, auch wenn die Quellenlage äußerst spärlich ist. Spätestens im Laufe der folgenden Jahrzehnte etablierten sich auf den Orkneys wie auf den Shetlands feste skandinavische Siedlungen, die sich bspw. an wikingerzeitlichen Bootsgräbern auf dem Gräberfeld von Westness auf Orkney oder den skandinavischen Langhäusern von Jarlshof auf den Shetlands fassen lassen. Um 825 nach Christus erfolgte die Landnahme auf den Färöern, hauptsächlich von skandinavischen Siedlern aus der Irischen See – Irland, Hebriden und der Isle of Man. Ende des 9. Jahrhunderts kam es, der in der späteren altnordischen Literatur überlieferten Legende nach aufgrund der tyrannischen Herrschaft des norwegischen Königs Harald Schönhaar (Haraldr hárfagri) zu einer intensiven Besiedlung der Färöer von Norwegen aus.
Die Tyrannei König Haralds soll es auch gewesen sein, die Ende des 9. Jahrhunderts zu Landnahme zur Kolonisierung Islands führte. Die altnordischen Quellen berichten in der sogenannten Landnámabók – der vermutlich im 12. Jahrhundert verfassten Geschichte der Besiedlung Islands –, dass Island erstmals Mitte des 9. Jahrhundert gesichtet wurde. Als erster ‚offizieller‘ Siedler gilt der Norweger Ingólfr Arnason, der sich im Jahr 874 nach Christus auf der Halbinsel Reykjanesskagi im Südwesten Islands niederließ und eine Siedlung gründete, die als Reykjavík bezeichnet wurde, heute die Hauptstadt des Landes. Neue archäologische Funde der letzten Jahre stellen jedoch zunehmen die Darstellung in den literarischen Quellen in Frage und es mehren sich die Hinweise, dass Island bereits früher von den Wikingern besiedelt wurde. Zentrales Argument dafür – neben einer Reihe von problematischen 14C-Datierungen an Funden von Holzkohle – sind Siedlungsspuren unter einem sogenannten Tephralayer, einer Schicht vulkanischer Ablagerungen, die auf einen Vulkanausbruch um 870 nach Christus zurückzuführen sind. Offensichtlich siedelten vereinzelt Wikinger bereits vor diesem Vulkanausbruch auf Island. Die eigentliche Besiedlung Islands, die als Landnahme (landnám) bezeichnet wird, fand vermutlich in Übereinstimmung mit den schriftlichen Quellen erst ab den 870er Jahren bis 930 nach Christus statt. Die archäologischen Funde von offensichtlich früheren nordischen Siedlungen lassen aber vermuten, dass der Ruhm, der erste Siedler auf Island gewesen zu sein, in den literarischen Quellen gezielt einer bestimmten Person zugeschrieben wurde. Als Ende der Landnahme gilt das Jahr 930 mit der Gründung des Allthings (alþingi) als gesetzgebende und rechtsprechende Versammlung aller freien Männer unter der Führung von anfangs 36 sogenannten Goden (goði/goðar), lokalen Anführern. Am Ende der Landnahme um 930 nach Christus war das gute Siedlungsland auf Island weitestgehend aufgeteilt, zumeist an Siedler aus Norwegen, aber auch an Wikinger, die zuvor auf den britischen Insel gesiedelt hatten und die eine große Anzahl von irischen Sklaven mitbrachten, deren DNA sich noch in dem Erbgut der heutigen Isländer deutlich nachweisen lässt.
Der äußerste Westen – Grönland und Vínland
Fehlendes Siedlungs- und Weideland, Missernten und in Folge Hungersnöte waren die maßgeblichen Faktoren, die Ende des 10. Jahrhunderts zu einer erneuten Landnahme führten. Auf dem Weg nach Island waren den Quellen zufolge mehrfach Schiffe vom Kurs abgekommen und hatten im Westen unbekanntes Land gesichtet. Diese Berichte nahm in den 980er Jahren ein Mann namens Erik der Rote (Eiríkr inn rauði) zum Anlass, nach diesem neuen Land zu suchen. Erik der Rote ist heute sicherlich der bekannteste Wikinger und das, was die altnordischen Sagas über ihn berichten, entspricht dem Paradebeispiel eines Wikingers. Geboren in Norwegen musste er als junger Mann mit seinem Vater wegen eines Totschlags nach Island fliehen. Bei seiner Ankunft in den 970er Jahren war das gute Siedlungsland bereits vergeben und Erik – ein offensichtlich jähzorniger und zu Gewalt neigender Charakter – geriet auch auf Island mit seinen Nachbarn in Konflikt. 982 wurde er für einen Totschlag für drei Jahre aus dem Land verbannt – die übliche Strafe in einer Gesellschaft, die über keinerlei Exekutive verfügte – und nutzte diese Zeit, um das im Westen gesichtete Land zu suchen. Als er 984 nach Island zurückkehrte, berichtete er von einem ‚grünen Land‘ mit idealen Siedlungsbedingungen und gab dem Land damit seinen bis heute gültigen Namen, ‚Grönland‘. Mit Sicherheit war dieser sprechende Name eine ausgezeichnete Marketingstrategie, mit der Erik Werbung für das von ihm entdeckte Land machen wollte. Eiskernbohrungen auf Grönland belegen allerdings, dass das Klima auf Grönland – geprägt durch das sogenannte ‚Mittelalterliche Klimaoptimum‘, eine bis zum 13. Jahrhundert andauernde Warmzeit – zu Zeiten Eriks tatsächlich milder war als heute. Zudem bot Grönland ausreichend Weideland und ein reichhaltiges Nahrungsangebot mit Fisch, Robben und Karibu sowie Zugang zu begehrten Luxuswaren wie Walrosselfenbein, Narwalzähnen und Polarbärenfellen. Bis zum 12. Jahrhundert, waren Walrossstoßzähne das wichtigste Rohmaterial für alle Formen von Elfenbeinschnitzereien und erzielten daher auf den europäischen Handelsplätzen hohe Preise. Eriks Werbung für das grüne Land war erfolgreich und 986 kam es der Landnámabók zufolge zu einer ersten Besiedlung Grönlands von Island aus. Bis zum Jahr 1000 waren alle bewohnbaren Gebiete an der Westküste Grönlands besiedelt und es hatten sich zwei zentrale Siedlungen mit insgesamt etwa 500 Einwohnern etabliert. Die südliche, klimatisch günstigere und deutlich größere Siedlung mit Eriks Hof Brattahlíð lag geschützt im Tunulliarfik beim heutigen Qassiarsuk und wurde als Ostsiedlung bezeichnet, da man ostwärts in den Fjord hineinsegeln musste, um sie zu erreichen. Eine zweite, kleinere und deutlich weniger wohlhabende Siedlung, die Westsiedlung, wurde etwa 500 Kilometer weiter nördlich beim heutigen Nuuk angelegt.
Anders als auf Island oder den Färöern, wo das Erbe der Wikinger bis heute fortbesteht, hielten sich die nordischen Siedlungen auf Grönland nur wenige hundert Jahre. Irgendwann im Laufe des 14. Jahrhundert rissen jedoch die Kontakte zur alten Heimat in Island und Norwegen ab und wenig später wurde zuerst die Westsiedlung und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhundert auch die Ostsiedlung aufgegeben. Lange Zeit waren die Ursachen wie auch die genaue Entwicklung des Untergangs der nordischen Siedlungen auf Grönland unklar. Neue naturwissenschaftliche Untersuchungen wie die Auswertung von Isotopen aus Eiskernbohrungen oder die sogenannte Paläoentomologie – die Analyse der im Permafrost gut erhaltenen Insektenfossilien – geben jedoch zunehmend Aufschluss über die verschlechterten Lebensbedingungen auf Grönland, durch welche die Nachfahren der Wikinger zur sukzessiven Rückkehr nach Island und Norwegen gezwungen wurden. Mit dem Ende des ‚Mittelalterlichen Klimaoptimums‘ und der Klimaverschlechterung der aufziehenden kleinen Eiszeit im Laufe des 13. Jahrhunderts, sank die Temperatur maßgeblich und das Klima wurde trockener und windiger. In Folge der zunehmenden Stürme und des kälteren Klimas verdichtete sich das Treibeis vor der grönländischen Küste, wodurch Fischfang und Seefahrt behindert wurden und weniger Treibholz an die Küsten gelangte. Aufgrund des geringen Baumbestandes auf Grönland war das Sammeln von Treibholz jedoch unverzichtbar für den Bau von Häusern und die Reparatur von Schiffen. Auch die großen Robbenpopulationen, die eine wesentliche Nahrungsquelle der nordischen Siedler darstellten, blieben wegen des zunehmenden Treibeises der grönländischen Küste fern, so dass es zu Nahrungsengpässen kam. Der drastische Anstieg des Meeresspiegels reduzierte das verfügbare Weideland um teilweise mehrere Hektar, ebenso wie eine zunehmende Versalzung der Böden durch einen erhöhten Salzgehalt im Meereswasser. Die Erosion des Weidelandes, bedingt durch eine exzessive Abholzung des geringen Baumbestandes verstärkte diese durch die Klimaverschlechterung bedingten Entwicklungen. Auch der Einbruch der Handelskontakte mit Island und Norwegen führte zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensbedingungen der Siedler. Zum einen erschwerten verschlechterte klimatische Bedingungen wie zunehmende Stürme und Treibeis die Navigation und die sichere Fahrt durch den Nordatlantik entlang der grönländischen Südküste. Zum anderen stagnierte auf dem europäischen Markt ab dem 12. Jahrhundert die Nachfrage nach dem bis dahin wichtigsten Exportgut der Kolonien, dem Walrosselfenbein. Durch die Kreuzzüge konnte die Nachfrage nach dem Rohmaterial für Elfenbeinschnitzereien günstiger und einfacher über die Märkte des Nahen Ostens aus Afrika beschafft werden. Die Kombination dieser beiden Faktoren – der zunehmend gefährlicheren Seereise nach Grönland und dem fehlenden Absatzmarkt für den wichtigsten Exportartikel – reduzierte die wirtschaftliche Bedeutung Grönlands für Europa und Island bzw. Norwegen vollkommen. Der Handel mit Grönland war innerhalb weniger Jahrzehnte vollkommen unlukrativ geworden und die wenigen regelmäßigen Handelsverbindungen von Norwegen oder Island brachen ein. Die Folgen waren drastisch, die grönländischen Siedler waren abhängig vom Import von Eisen für jede Art von Werkzeugen und besonders auch von Bauholz für die Instandhaltung ihrer Schiffe.
Trotz der marginalen Stellung der grönländischen Siedlungen in der wikingerzeitlichen Welt waren sie Ausgangspunkt für eines der größten und in der Forschung lange Zeit kontrovers diskutierten Abenteuer – die Entdeckung des nordamerikanischen Kontinents durch Wikinger. In mehreren späteren Quellen wird von einem Land namens Vínland berichtet, dass weit im Westen liegend von Wikinger aus Grönland entdeckt worden sein soll. Die zentrale Figur dieser Expeditionen soll ausgerechnet der Sohn von Erik dem Roten, dem Entdeckers von Grönland, gewesen sein, Leifr Eiríksson, genannt Leif der Glückliche (Leifr inn heppni). Die Entdeckung des mit nahezu paradiesischen Zügen beschriebenen Vínlands, in dem wilder Wein – daher der Name Vínland (‚Weinland‘) – und selbstsäender Weizen wachsen solle, wird in zwei, im frühen 13. Jahrhundert entstandenen, sogenannten Vínland-Sagas, der Grœnlendinga saga und der Eiríks saga rauða, in leicht variierender Form beschrieben. Die Sagas berichten von einer oder mehreren Expeditionen zu diesem neuen Land im Westen, der Anlage von Sommerlagern und dem schließlich dem Abbruch der Besiedlungsversuche aufgrund von kriegerischen Konflikten mit Eingeborenen, bei denen es sich vermutlich um Angehörige der Beothuk gehandelt haben wird. Trotz der gefühlten Überlegenheit der Wikinger über die kleineren und in ihren Augen schwächeren Beothuk und Inuit, die sie als skrælingar (‚Schwächlinge‘) verspotteten, mussten die Wikinger nach anfänglichen friedlichen Kontakten den zahlenmäßig weit überlegenen und besser an die klimatischen Bedingungen angepassten skrælingar sowohl in Nordamerika wie auch in Grönland weichen
Lange Zeit wurde in der Forschung intensiv darüber gestritten, ob es sich bei diesem Vínland um den nordamerikanischen Kontinent handeln könne und die Wikinger tatsächlich fast 500 Jahre vor Kolumbus die neue Welt erreicht hätten. Es war das norwegische Ehepaar Anne-Stine und Helge Ingstad, die Ende der 1950er-Jahre die Schilderungen in den altnordischen Sagas ernst nahmen und damit begannen, entlang der Küste von Neufundland im heutigen Kanada nach Spuren einer skandinavischen Besiedlung zu suchen. Bei L’Anse aux Meadows an der Nordspitze Neufundlands stießen die beiden Archäologen 1961 tatsächlich auf die Überreste von mehreren nordischen Langhäusern, die über 14C-Analysen auf das Jahr 1000 nach Christus datiert werden konnten und bei denen es sich um die Ruinen eines der in den Sagas erwähnten Sommerlager der Grönländer handeln musste. Nahezu alle bislang in Nordamerika gefundenen angeblichen Beweise für das Vordringen der Wikinger bis nach Minnesota – wie der berühmte Runenstein von Kensington – stellten sich entweder als Fälschungen oder als moderne Importe heraus. Die archäologischen Funde von L’Anse aux Meadows – darunter typisch skandinavische Gegenstände wie eine Specksteinspinnwirtel und eine bronzene Ringnadel – belegen dagegen zweifelsfrei die spektakuläre Tatsache, dass Kolumbus nicht der erste Europäer auf dem amerikanischen Kontinent war und in den Überlieferungen der Sagas durchaus ein wahrer Kern steckte. Auch wenn die Vínland-Expeditionen nur eine kurze und weitestgehend folgenlose Episode in der Geschichte der Wikinger sind, so zeigen sie doch eindrucksvoll den Entdeckergeist, den Wagemut und das seefahrerische Können auf, die so prägend waren für die Wikingerzeit und bis heute eng verbunden sind mit dem Begriff ‚Wikinger‘.
Das ‚Große Heidnische Heer‘ und die britischen Inseln
Während der Fokus der nach Westen gerichteten Expansion im Nordatlantik auf der Erschließung neuer Siedlungsbiete lag, war das Vordringen der Wikinger gen Süden geprägt von militärischen Unternehmungen. Norwegische und später auch dänische Wikinger nutzten die Inselgruppen im Nordatlantik wie die Orkneys und die Hebriden schon gegen Ende des 8. Jahrhundert als Ausgangspunkte und Winterlager für Überfälle auf die Küsten von Schottland, Irland und England. Sie plünderten Siedlungen und besonders die abseits gelegenen Klöster wie das berühmte Lindisfarne an der Küste von Northumberland 793 oder die vom Hl. Columban gegründete Abtei von Lambay Island vor der Ostküste Irlands 795. Ebenso wie auch auf den Orkneys, den Shetland-Inseln oder den Hebriden, die vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhundert Teil des norwegischen Herrschaftsbereiches waren, etablierten sich auch in Irland in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts aus den saisonalen Winterlagern der Schiffsverbände auf víking feste Siedlungen. Bekanntestes Beispiel ist sicherlich die heutige irische Hauptstadt Dublin, eine ursprünglich keltische Siedlung, die zuerst von norwegischen Wikingern als Winterlager genutzt und in den 840er Jahren zu einem befestigten Stützpunkt und wichtigen Hafen ausgebaut wurde. In den folgenden Jahren bis Ende des 10. Jahrhunderts war die von den Wikingern als Dyflin bezeichnete Siedlung Zentrum des Königreiches Dublin und Mittelpunkt andauernder militärischer Konflikte zwischen drei Parteien, Verbänden von Wikingern aus Norwegen sowie aus Dänemark und den irischen Königen.
Die Küsten Britanniens wurden ebenso wie Schottland und Irland ab dem Ende des 8. Jahrhunderts von einzelnen Schiffen oder kleineren Schiffsverbänden von Wikingern geplündert. Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts veränderten die hauptsächlich aus Dänemark stammenden Wikinger jedoch ihren Fokus und versuchten zunehmend im Landesinneren Fuß zu fassen. Aus den saisonalen Raubzügen wurde der Versuch einer Landnahme, fassbar daran, dass die Wikinger ab 850 nach Christus im Herbst nicht mehr in ihre Heimat zurückkehrten, sondern in Britannien überwinterten, erstmals auf der kleinen Insel Thanet in der Themsemündung. Zudem schlossen sich die einzelnen kleineren Verbände unter der Führung von lokalen Häuptlingen – darunter die drei Brüder Namen Ivarr, Halfdan und Ubba Ragnarsson – zu schlagkräftigen Armeen aus mehreren tausend Kriegern zusammen, die als das ‚Große Heidnische Heer‘ (mycel heathen here in den altenglischen Quellen) bezeichnet werden. In den 60er- und 70er-Jahren des 9. Jahrhunderts eroberte dieses Wikingerheer mit Northumbria, East Anglia und Mercia große Teile des angelsächsischen Englands.
Eines der befestigten Winterlager des ‚Großen Heidnischen Heeres‘ aus dem Winter 873/874 wurde in den 1980er Jahren in Repton im damaligen Königreich Mercien entdeckt. Die Wikinger hatten entlang des damaligen Ufers des Trent einen D-förmigen Wall angelegt, in dessen südlicher Längsseite die Kirche Reptons als Torhaus integriert war. Westlich der Kirche fand sich ein Massengrab mit den Überresten von mindestens 249 Individuen, das an der Stelle einer älteren, von einem Steinhügel überdeckten Kapelle angelegt war, die vermutlich als Bestattungsplatz der mercischen Königsfamilien gedacht war. Die Zusammensetzung der Knochen aus dem Massengrab deutet darauf hin, dass es sich um die sekundäre Bestattung von Individuen handelt, die zuvor bereits an anderer Stelle beigesetzt und nach einiger Zeit in das Massengrab umgebettet worden waren. So fanden sich 249 linke Oberschenkel, aber nur 221 Schädel und kaum kleinere Knochen, die bei einer Exhumierung von bereits skelettierten Leichen leicht übersehen werden können. Über 80% der Toten waren männlich Erwachsene, Kinder fehlten gänzlich. Einige der Knochen wiesen Spuren von Gewalteinwirkung auf, die aber zumeist bereits verheilt waren. Es ließen sich keine tödlichen Verletzungen an den Knochen nachweisen, was vermuten lässt, dass die Männer an Krankheiten verstarben. Die Radiokarbondatierung (14C) der Knochen zeigte zudem, dass sich in dem Massengrab Knochen aus unterschiedlichen Zeiträumen lagen. Ein Großteil der Knochen ließ sich auf die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts datieren und scheint – zusammen mit der Tatsache, dass es sich fast durchgängig um erwachsene Männer handelt – von Wikingern zu stammen, die nach ihrem Tod nach Repton gebracht und dort gemeinsam bestattet wurden. Die anderen Knochen waren deutlich älter und stammten entweder aus dem mercischen Mausoleum der Kapelle oder von dem Friedhof rund um die Kirche und waren beim Aushub des Walles durch die Wikinger zum Vorschein gekommen und in dem Massengrab entsorgt worden.
Viele Wikinger siedelten sich mit ihren aus Skandinavien nachgeholten Familien in den eroberten und als Danelag – ‚dort wo das dänische Recht gilt’ – bezeichneten Gebieten an. Noch heute weise viele Ortsnamen im Nordosten Englands auf die skandinavischen Siedler der Wikingerzeit hin. Erst Ende des 9. Jh. gelang es dem angelsächsischen König Alfred dem Großen und seinem Nachfolger Eduard dem Älteren die Wikinger in die nordöstlichen Gebiete Englands – vor allem in Northumbria – zurückzudrängen. Wie intensiv die skandinavische Besiedlung im Danelag nach der Auflösung des ‚Großen Heidnischen Heeres‘ Ende des 9. und in Folge im 10. Jahrhundert tatsächlich war, lässt sich nur schwer erschließen. Archäologische Funde, die auf die Ansiedlung von Wikingern hindeuten, sind abseits der frühen städtischen Zentren wie York – unter dem altnordischen Namen Jórvík von der Mitte des 9. Jahrhunderts für etwa ein Jahrhundert Mittelpunkt eines Kleinkönigtums der Wikinger – bisher nur wenig bekannt. Vereinzelt lassen sich bei archäologischen Ausgrabungen in kleineren Siedlungen Hausgrundrisse von nordischen Langhäusern nachweisen, die von der Niederlassung meist dänischer Familien künden. Deutlicher lässt sich die längerfristige Präsenz von Wikingern dagegen an Ortsnamen fassen. In dem Domesday Book, einem Ende des 11. Jahrhundert verfassten Grundbuch, sind mehrere hundert Namen altnordischen Ursprungs. Die Verwendung von altnordischen anstelle von altenglischen Namen für Dörfer oder Gehöfte deutet darauf hin, dass diese Siedlungen entweder von den Wikingern neu gegründet wurden oder dass sie die Mehrheit bzw. die lokale Führungsschicht stellten und sich ihre Namensformen daher durchsetzten.
Ende des 10. Jh. kam es zu erneuten Plünderungen Englands durch Wikinger, die 1013 nach Christus zur Eroberung durch den dänischen König Sven Gabelbart (Sveinn tjúguskegg) führten. Nach Svens Tod folgte ihm sein Sohn Knut der Große (Knútr inn ríki), der mit Dänemark, Teilen Südschwedens, Norwegen und England von 1016 bis zum seinem Tod 1035 mit dem sogenannten Nordseereich das größte Reichsgebiet der skandinavischen Wikingerzeit regierte. Einen deutlichen Hinweis auf die ständigen Konflikte zwischen Skandinaviern und Angelsachsen liefert auch das vor wenigen Jahren entdeckte Massengrab von Weymouth in Dorset. In dem Grab waren über 50 enthauptete Männer verscharrt worden, die nach Aussage der naturwissenschaftlichen Analysen aus Skandinavien stammten und im 10. oder frühen 11. Jahrhundert lebten. Ausgehend von der skandinavischen Herkunft der Männer wurden die Toten anfangs als Wikinger interpretiert, die bei einem Raubzug an der englischen Küste gefangen genommen und hingerichtet worden waren. Neue anthropologische Untersuchungen ergaben jedoch, dass einige der Männer so massive körperliche Beeinträchtigungen aufwiesen, dass sie zumindest zum Zeitpunkt ihres Todes kaum wilde Plünderer oder furchterregende Krieger gewesen sein können. Vielmehr könnte es sich bei den Männern um willkürliche Opfer eines ethnisch bedingten Massakers gehandelt haben. Der Anglo-Saxon Chronicle zufolge ordnete der englische König Æthelred mit dem vielsagenden Beinamen ‚der Unberatene‘ im Jahr 1002 an, alle in England lebenden Dänen töten zu lassen. Hintergrund waren die zunehmenden Überfälle dänischer Wikinger und Æthelreds Furcht vor einem Aufstand der im Danelag lebenden dänischen Siedler. Wie weit diese Anordnung, mit der Æthelred sich gleichzeitig der ökonomisch bedeutsamen Handelsverbindungen durch die skandinavischen Händler beraubt hätte, tatsächlich umgesetzt wurde, bleibt unklar. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Toten in dem Massengrab von Weymouth dem sogenannten St.-Brice‘s-Day-Massaker vom November 1002 zum Opfer fielen. Für Æthelred hatte alleine schon die propagandistische Funktion dieser Anordnung weitreichende Folgen, völlig unabhängig von der tatsächlichen Ausführung. Der Dänenkönig Sven nahm das Massaker als Ausrede für erneute Raubzüge nach England – den Überlieferungen zufolge soll auch Svens Schwester Gunnhild unter den Opfern gewesen sein – eroberte das Land schließlich und trieb Æthelred zumindest für kurze Zeit ins Exil.
Das Frankenreich und der Süden
Bereits seit der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts war das fränkische Reich regelmäßiges Ziel von Plünderungen der Wikingern gewesen war. Im Jahr 845 wurde Hamburg belagert und Paris von Wikingern unter Führung eines gewissen Ragnar geplündert, der möglicherweise später als der legendäre Ragnarr Loðbrók in die altnordischen Sagas – und die TV-Serie ‚Vikings‘ – Einzug fand. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts intensivierten sich diese Raubzüge nach Süden massiv. Große Teile des vom angelsächsischen König Alfred besiegten ‚Großen Heidnischen Heeres‘ überquerten den Ärmelkanal und plünderte die Küsten Nordfrankreichs und Flanderns. Ganze Flottenverbände stießen, die innenpolitische Schwäche des Fränkischen Reiches in Folge mehrerer Reichsteilung und Erbfolgestreitigkeiten zwischen den Königssöhne ausnutzend, über die großen Flüsse bis tief ins Landesinnere vor und brandschatzten ab den 80er Jahren des 9. Jahrhunderts die großen Städte entlang von Rhein, Maas und Seine wie Köln, Trier oder Paris. Die permanente Bedrohung durch die Wikinger führte dazu, dass der westfränkische König Karl III., genannt der Einfältige, im Jahr 911 die Grafschaft Rouen dem Wikingerhäuptling Rollo als Lehen übertrug, damit er die in Folge als Normandie bezeichnete Küstenregion vor weiteren Plünderungen schützen sollte. Es klingt fast wie eine Ironie der Geschichte, dass ein Nachfahre des vermutlich aus Dänemark stammenden Rollo, der normannische Herzog Wilhelm der Eroberer, 150 Jahre später mit der Eroberung Englands zu dem Ende der Wikingerzeit beitrug.
Entlang der Atlantikküste gelangten die Wikinger zudem bis zur Iberischen Halbinsel und in das westliche Mittelmeer. Mitte des 9. Jahrhunderts berichten die historischen Quellen von mehreren Raubzügen entlang der spanischen und marokkanischen Küste, bei denen Sevilla für einige Wochen eingenommen und Sklaven an der nordafrikanischen Küste genommen wurde. Ein knappes Jahrhundert später kam es zu weiteren Überfällen auf die Küste Galiziens im nordwestlichen Spanien, unter anderem auf Santiago de Compostela. Während die Raubzüge an der iberischen Küste bisher nur aus historischen Quellen bekannt waren, sind nun möglicherweise archäologische Belege für die Anwesenheit der Wikinger gefunden worden. Neben angespülten Steinankern, die nordischer Herkunft sein können, wurden Wälle entdeckt, die deutlich den befestigten Winterlager der Wikinger ähneln, wie sie an der irischen Küste üblich waren. Diese neuen Befunde scheinen die Aussagen der historischen Quellen zu bestätigen, dass die Wikinger sich Mitte des 10. Jahrhunderts längere Zeit an der Küste Galiziens aufgehalten und dort auch vermutlich mehrfach überwintert haben.
Der Weg nach Osten
Das Ostbaltikum war schon in der Vendelzeit im späten 6. und 7. Jahrhundert das Ziel skandinavischer Expeditionen, die in den Häfen an der Küste Handel trieben, aber auch ungeschützte Siedlungen überfielen. Archäologische Belege für eine skandinavische Präsenz bereits Jahrhunderte vor der skandinavischen Expansion in der Wikingerzeit finden sich z. B. an dem bedeutenden Handelsplatz von Grobiņa an der Küste Lettlands, der den Funden in den über 3.000 Grabhügel zufolge ab der Mitte des 7. Jahrhunderts eine skandinavische Kolonie auf der anderen Seite der Ostsee war. Auf weniger friedliche Kontakte weisen dagegen die beiden neu entdeckten Bootsgräber von Salme auf der estnischen Insel Saaremaa hin. In zwei Ruderbooten waren insgesamt 34 Männer anscheinend provisorisch beigesetzt worden, teilweise in vier Schichten übereinander. Naturwissenschaftliche Analysen an den Knochen deuten ebenso wie die Funde darauf hin, dass die Männer aus Skandinavien stammten und Anfang oder Mitte des 8. Jahrhunderts ein offensichtlich gewaltsames Ende an der ostbaltischen Küste genommen hatten. Entweder handelt es sich bei den Toten in den beiden Bootsgräbern von Salme um Plünderer, oder – wie teilweise aufgrund der prestigeträchtigen Ausrüstung gemutmaßt wird – um Angehörige einer fehlgeschlagenen diplomatischen Mission.
Bedeutsamer als die Verbindungen zur ostbaltischen Küste war für die Wikinger jedoch der Zugang zu den russischen Flusssystemen, über die sie die Märkte in Konstantinopel – dem heutigen Istanbul und damals als Hauptstadt des Byzantinischen Reiches der Nabel der Welt – und der arabischen Welt erreichen konnten. Im Laufe des 9. und frühen 10. Jahrhunderts etablierten die Wikinger entlang der großen Flüsse wie Wolga und Dnjepr befestigte Umschlagplätze zur Sicherung ihrer Handelsrouten, die bis zur berühmten Seidenstraße in Asien führten. Aus diesem Verbund kleiner Herrschaftsbereiche entstand unter dem Einfluss einer skandinavischen Elite die Kiewer Rus, das altrussische Reich.