Neue genetische Untersuchungen an den Individuen aus einem der sicherlich rätselhaftesten und strittig diskutiertesten Gräber der skandinavischen Wikingerzeit haben ein spektakuläres Ergebnis hervorgebracht, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.
1981 wurde im dänischen Gerdrup auf Seeland, etwa 10 Kilometer nördlich von Roskilde, das Doppelgrab von einer Frau und einem Mann entdeckt. Das mehr als einem Meter tiefe Grab stammte vermutlich aus dem frühen 9. Jahrhundert und lag abseits der üblichen Gräberfelder in einer Düne an einem Fjord. Bereits bei der Ausgrabung erregte die Lage der beiden gut erhaltenen Skelette große Aufmerksamkeit.
Der auf der linken (westlichen) Seite des Grabes bestattete Mann lag in merkwürdig verrenkter Haltung mit gespreizten Oberschenkeln. Osteologische Untersuchungen ergaben, dass er zum Todeszeitpunkt vermutlich 35–40 Jahre alt war und möglicherweise erhängt wurde, wie die verdrehten Halswirbel nahelegten. Die Lage seiner Beine könnte möglicherweise daraus resultieren, dass er an den Füßen gefesselt bestattet wurde.
Direkt auf den Leichnam der auf der rechten Seite des Grabes liegenden Frau waren drei große Steine gelegt worden. Neben ihren Beinen lag eine etwa 40 cm lange Speerspitze und zwischen den beiden Toten fanden sich Reste eines unverbrannten Schafschädels.
Die Interpretation dieses Grabes beschäftigt die Forschung bereits seit Jahrzehnten. Zumeist wird angenommen, dass es sich bei dem Mann um einen Sklaven oder Unfreien gehandelt hat, der rituell getötet wurde, um der Frau mit ins Jenseits zu folgen. Warum aber wurde die Frau mit Steinen bedeckt und welche Rolle spielt die Speerspitze in dem Grab? Möglicherweise handelte es sich bei ihr um eine sogenannte Völva, eine Frau, der magische Fähigkeiten nachgesagt wurden. In einigen altnordischen Sagas werden solche Völvas erwähnt, die die Zukunft vorhersehen und Zauber wirken können. Die schweren Steine sollten möglicherweise verhindern, dass die Frau von den Toten wiederauferstehen und den Lebenden Schaden zufügen konnte – eine in der Wikingerzeit durchaus verbreitete Furcht. Auch der Speer würde sich mit dieser Deutung der Frau als Völva erklären lassen. Der Begriff bedeutet „Stabträgerin“ und aus einer Reihe von wikingerzeitlichen Frauenbestattungen sind eiserne Stäbe bekannt, die möglicherweise als ‚Zauberstäbe‘ zu deuten sind, mit denen kultische Handlungen vollführt wurden. Vielleicht nutzte die Völva von Gerdrup stattdessen einen Speer?
Die neuen genetischen Untersuchungen sind allerdings eine deutliche Überraschung und zwingen die Forschung nun, zumindest die Deutung des Mannes zu revidieren. Nach Ausweis der DNA handelt es sich bei den beiden Toten aus dem Grab von Gerdrup um Mutter und Sohn. Wurde möglicherweise beide wegen vorgeblich übernatürlicher Fähigkeiten oder Schadenszauber getötet und in einem Grab abseits der Siedlungen und Gräberfelder beerdigt? Eine Parallele dazu findet sich tatsächlich in der – allerdings gut 500 Jahre jüngeren – altnordischen Sagaliteratur. In der Eyrbyggja saga, die im 10./11. Jahrhundert auf Island spielt, allerdings erst Mitte des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, wird eine Frau namens Katla wegen Schadenszauberei zu Tode gesteinigt und ihr Sohn Oddr gehängt. Trotz der großen zeitlichen und geographischen Diskrepanz zwischen dem Grab von Gerdrup und den (literarischen) Erzählungen der Eyrbyggja saga verleiten die deutlichen Parallelen die Forschung seit langem zu faszinierenden Spekulationen über Zauberinnen in der Wikingerzeit.