Oder: 'Archäologie kann auch Spaß machen'
Langeweile in der Heiligen Messe und schlechtes Benehmen vor 1000 Jahren
So muss es Halfdan, einem Mitglied der berühmten Warägergarde des byzantinischen Kaisers, gegangen sein, der Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh. seinen Namen in Runen in eine Balustrade auf der Kaiserempore der Hagia Sophia – damals Kathedrale des Byzantinischen Reiches – ritzte.
Überlieferung und Kontext
Um das Jahr 980 sicherte sich Wladimir Swjatoslawitsch, Herrscher über Nowgorod, durch mehrere Tausend als Waräger bezeichnete Söldner aus Skandinavien die Herrschaft als Großfürst der Kiewer Rus. Die angeworbenen Söldner wurden jedoch zu einer finanziellen Belastung bzw. zu einer Gefahr für die Herrschaft von Wladimir, die er dadurch beseitigte, dass er sie dem byzantinischen Kaiser Kaiser Basileios II. im Jahr 988 als militärische Unterstützung im Gegenzug für die Hochzeit mit dessen Schwester Anna von Byzanz schickte. Dies führte zur Bildung der sogenannten Warägergarde, einer Leibwache der byzantinischen Kaiser, die ausschließlich aus Wikingern bestand, die als besonders tapfer, kampfstark und vor allem uneingeschränkt loyal betrachtet wurden.
Als Leibwache des Kaisers hatte die Warägergarde Zugang zu der Kaiserempore in der Hagia Sophia, die ansonsten nur von der Familie und den engsten Vertrauten des Kaisers betreten werden durfte. Daher ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass es ein skandinavischer Krieger der kaiserlichen Leibwache war, der aus Langeweile ein paar Runen in den Marmor der Balustrade ritzte. Die Inschrift ist heute nicht mehr vollständig lesbar. Es lässt sich der Name ‚Halftan‘ erkennen und vermutlich lautete die Inschrift ursprünglich ‚Halfdan ritzte diese Runen‘, eine Formulierung, die sich öfter bei kurzen Runen-Graffiti nachweisen lässt.
Auf der Kaiserempore befindet sich eine zweite Runeninschrift in einer kleinen Nische. Die Inschrift ist kaum noch lesbar, wird aber zumeist als ‚Ári (machte die Runen)‘ gedeutet. Offensichtlich verewigte sich hier ein weiteres aus Skandinavien stammendes Mitglied der Warägergarde.
Die bis heute existierende Angewohnheit (oder Unsitte), Runeninschriften auch an unpassenden Stellen anzubringen, bezeugt auch der sogenannte ‚Löwe von Piräus‘. Der Löwe ist eine antike marmorne Statue, die heute vor dem Arsenal von Venedig steht, ursprünglich aber in Piräus, dem Hafen von Athen aufgestellt war. Auf der linken Flanke des Löwen lassen sich deutlich skandinavische Runen erkennen, die in verschlungenen Bändern in den Marmor der Statue geritzt wurden. Die Interpretation der Inschrift ist unsicher, aber auch sie lässt sich den aus Skandinavien stammenden Warägern zuschreiben.
Godefrid und die Suche nach Weinbergen
Mitte er 880er Jahren gab der ostfränkische König und römische Kaiser Karl III. – unter seinen Freunden bekannt als ‚der Dicke‘ – dem dänischen Wikingerhäuptling Godefrid ein Lehen in Friesland, vermutlich mit dem Hintergedanken, den aufsässigen Wikinger so im Auge behalten zu können. Kurze Zeit später kommt besagter Godefrid jedoch an den Hof von Karl und bittet den Kaiser zur absoluten Empörung des fränkischen Chronisten Regino von Prüm, der das Geschehen aus dem Jahr 885 überliefert, darum, sein Lehen in Friesland gegen Sinzig, Andernach und Koblenz am Mittelrhein tauschen zu dürfen. Seine Begründung wirkt überraschend, ging es ihm doch nicht um eine militärisch vorteilhaftere Position oder besseren Anschluss an Handelsrouten, sondern darum, dass in Friesland kein Weinanbau möglich sei. Godefrid wollte in erster Linie direkten Zugriff auf das im Norden so beliebte und luxuriöse Getränk haben.
Überlieferung und Kontext
Überliefert in Regino von Prüms Chronicon, verfasst 907/908, Eintrag für das Jahr 885.
Über den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote kann sicherlich gestritten werden. Möglicherweise ging es Regino darum, den dänischen Häuptling als unzuverlässig und wortbrüchig, gierig und versoffen darzustellen, indem er die berüchtigte Trinklust der Wikinger und ihr archäologisch durchaus belegbares Begehren nach fränkischem Wein aufgriff. Karls Regierungszeit Ende des 9. Jh. stand unter dem Zeichen permanenter Angriffe und weitreichender Plünderzüge der Wikinger bis tief in das Frankenreich, so dass auch Regino, der diese Zeit selber miterlebte, alles andere als neutral den Nordmännern gegenüber gewesen sein wird.
Die Geschichte kann sich aber durchaus so zugetragen haben, Regino war 885 Mitte 40 und die Einträge in seiner Chronik basieren ab dem letzten Viertel des 9. Jh. auf seinen eigenen Beobachtungen. Insgesamt ist diese Anekdote zwar sicherlich nicht repräsentativ für die Mentalität der Wikinger, aber sie zeigt doch einen ziemlich sympathischen Charakterzug der sonst so rauen Gesellen.
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Die Dandy-Wikinger und die angelsächsischen Frauen
Es soll die Sitte der Dänen in East Anglia gewesen sein, jeden Tag ihr Haar zu kämmen, jeden Samstag zu baden, regelmäßig ihre Kleidung zu wechseln und generell auf ihr äußeres Erscheinen zu achten, so berichtet eine mittelalterliche englische Quelle unter Berufung auf ältere Überlieferungen. Diese Wertschätzung von ordentlichem Aussehen und Hygiene, so der Chronist weiter, soll bereits ausgereicht haben, um die Tugendhaftigkeit der angelsächsischen Frauen auf die Probe zu stellen und sogar die Töchter der Adeligen zu verführen.
Diese Überlieferung widerspricht dem üblichen Bild des ungepflegten und barbarischen Wikingers und wirft gleichzeitig ziemlich schlechtes Licht auf die persönliche Hygiene der angelsächsischen Männer.
Überlieferung und Kontext
Überliefert in der Chronica Joannis Wallingford (De Passione Sancti Ædwardi Regis & Martyris) des Benediktinermönches John of Wallingford aus der Mitte des 13. Jh. unter Berufung auf ältere Quellen wie der Anglo-Saxon Chronicle aus dem 9. Jh.
Nicht zuletzt aufgrund der großen zeitlichen Diskrepanz – die Passage stammt aus einer Schilderung der Situation im angelsächsischen England in der zweiten Hälfte des 10. Jh. – stellt sich natürlich die Frage, wie zuverlässig dieser Bericht ist und welche Intentionen John of Wallingford damit verfolgte.
Möglicherweise wollte er aufzeigen, welche Unruhe die Dänen durch ihr Verhalten in East Anglia stifteten, um dadurch das sogenannte St. Brice’s Day-Massaker von 1002 zu rechtfertigen, bei dem auf Befehl des angelsächsischen Königs Æthelred dem Unberatenen alle in England lebenden Dänen getötet werden sollten. Ende des 10. Jh. war es wieder zu massiven Überfällen von zumeist dänischen Wikingern auf das angelsächsische England gekommen, gleichzeitig sorgte die steigende Präsenz dänischer Händler in East Anglia für Unruhe, besonders bei König Æthelred, der sich vor einem Aufstand der Dänen fürchtete.
Ob und wie weit dieser Befehl zur Tötung aller Dänen tatsächlich umgesetzt wurde, ist bislang unklar. Vermutlich wird es eher zu einzelnen Übergriffen und Tötungen gekommen sein – das vor wenigen Jahren entdeckte Massengrab von Weymouth in Dorset resultiert mit recht großer Wahrscheinlichkeit aus dem St. Brice’s Day-Massaker. Dennoch hatte alleine der Befehl wohl große Auswirkungen auf die angelsächsische Geschichte, da der dänische König Sven Haraldsson, genannt Gabelbart, das Massaker als Vorwand für weitere Überfälle auf England nutzte, die 1013 schließlich in der Eroberung des englischen Throns und der Vertreibung Æthelreds mündeten.
Was machte der erste Deutsche in Amerika? Sich betrinken.
So zumindest überliefert es die Grænlendinga saga, eine der beiden Vínland-Sagas, die – niedergeschrieben vermutlich bereits Anfang des 13. Jh. – in Kapitel 4 von der Entdeckung und Besiedlung Grönlands und den Expeditionen der grönländischen Nordmänner an die nordamerikanische Küste bei Neufundland berichtet.
Einer der Teilnehmer der ersten Expedition von Grönland nach Neufundland war ein Mann namens Tyrkir, genannt der Deutsche. Tyrkir war ein Sklave von Eiríkr hinn rauði (Erik dem Roten), dem Entdecker Grönlands und Ziehvater von Eriks Sohn Leifr, genannt der Glückliche, der die Expedition nach Neufundland anführte. Eines Tages kehrte Tyrkir von einer Erkundungstour nicht in das Lager der Männer zurück. Besorgt ging Leifr mit seinen Leuten auf die Suche und fand den deutschen Sklaven ganz in der Nähe in reichlich derangiertem Zustand. Er sprach zunächst nur Deutsch und zog Grimassen und Leifr erkannte, dass er ‚äußerst heiter‘ war, wie die Saga lakonisch vermerkt. Dann berichtet Tyrkir, dass er Weinreben gefunden habe. Weintrauben und Wein kenne er noch aus seiner Kindheit in Deutschland (vermutlich am Mittelrhein) und so habe er die teilweise schon vergorenen Trauben gegessen und sich damit einen ordentlichen Rausch geholt. In Folge dessen beschloss Leifr das neu entdeckte Land Vínland zu nennen, „Wein-Land“.
Überlieferung und Kontext
Die nur unvollständig überlieferte Grænlendinga saga (der Anfang fehlt) ist vermutlich eine der ältesten altnordischen Sagas und kann bereits auf den Beginn des 13. Jh. datiert werden. Zusammen mit der zweiten Vínland-Saga, der Eiríks saga rauða, ist die Grænlendinga saga eine der wichtigsten Quellen für unser Wissen über die Entdeckung der nordamerikanischen (bzw. eigentlich kanadischen) Ostküste von Labrador und Neufundland, allerdings widersprechen sich beide Sagas in mehreren Punkten.Wie auch bei dem restlichen Korpus der altnordischen Sagaliteratur muss der Quellenwert der Grænlendinga saga für die Wikingerzeit kritisch bewertet werden, nicht zuletzt aufgrund der großen zeitlichen Diskrepanz zwischen den geschilderten Ereignissen und dem Zeitraum der Niederschrift. Allerdings handelt es sich dabei nicht um pure Fiktion, wie das norwegische Archäologen-Paar Anne-Stine und Helge Ingstad in den 1960er-Jahren bewiesen haben. Ausgehend von den Beschreibungen in den Vínland-Sagas entdeckten sie bei L’Anse aux Meadows die Reste eines wikingerzeitlichen Sommerlagers bestehend aus mehreren typisch isländisch-grönländischen Grasssodenhäusern. Die Funde von L’Anse aux Meadows bewiesen, dass die Wikinger bereits fast 500 Jahre vor Christoph Kolumbus Nordamerika entdeckt und betreten hatten und belegten gleichzeitig den Wahrheitsgehalt der Überlieferungen in den Vínland-Sagas.
Ob nun auch die Episode mit dem betrunkenen Tyrkir tatsächlich auf einer historischen Überlieferung basiert oder ob es sich um einen literarischen Schwank handelt, kann nicht sicher entschieden werden. Wilder Wein wächst und wuchs zwar nicht bei L’Anse aux Meadows, aber die Wachstumsgrenze von wildem Wein liegt nur wenig weiter südlich auf Höhe von Nova Scotia. Und natürlich waren sowohl Wein wie auch Weinstöcke und -trauben den Skandinaviern – und erst recht einem aus dem Frankenreich stammenden Sklaven – durchaus vertraut. Theoretisch könnte sich diese nette Anekdote also durchaus so zugespielt haben.
Sexentzug bei den Wikingern
Aus Frust darüber, dass ihr Mann – der berühmt-berüchtigte notorische Totschläger und Entdecker Grönlands, Eiríkr hinn rauði (Erik der Rote), – sich nicht zum christlichen Glauben bekennen und taufen lassen will, beschließt Þjóðhild (Tjodhild), nicht mehr mit ihrem Mann zu schlafen, wie die Eiríks saga rauða in Kapitel 5 berichtet. Ob der Sexentzug den harten Wikinger und überzeugten Heiden in die Knie gezwungen hat, wissen wir nicht. Erik starb vor der offiziellen Christianisierung Grönlands, aber es ist davon auszugehen, dass er seine letzte Ruhestätte in einem christlichen Grab auf dem Friedhof um die, vermutlich von Þjóðhild errichtete kleine Kirche bei seinem Hof Brattahlíð fand.
Überlieferung und Kontext
Die Eiríks saga rauða stammt, ebenso wie zweite Vínland-Saga, die Grænlendinga saga, aus dem frühen 13. Jh. und ist damit eine recht alte Saga. Zusammen mit der Grænlendinga saga ist sie eine der wichtigsten Quellen für unser Wissen über die Entdeckung der nordamerikanischen (bzw. eigentlich kanadischen) Ostküste von Labrador und Neufundland, allerdings widersprechen sich beide Sagas in mehreren Punkten.Der Hintergrund dieser kleinen Anekdote lässt sich archäologisch belegen. Bei dem Hof Brattahlíð, gelegen nahe des heutigen Narsarsuaq, wurde Ende des 10. Jh. eine kleine Kirche aus Grasssoden errichtet, die als ‚Þjóðhilds Kirche‘ bekannt ist und die von einem kleinen Friedhof umgeben ist. Den Einfluss, direkt bei Eriks Hof eine erste Kirche – vermutlich die erste Kirche auf Grönland – errichten zu lassen, wird nur Erik selber oder eben seine Frau Þjóðhild gehabt haben.
Ob es aber tatsächlich einen familieninternen Religionskonflikt gegeben hat, der mit solcherlei drastischen Mitteln ausgefochten wurde, wie die Eiríks saga rauða schildert, lässt sich jedoch nicht belegen. Ebenso wenig, ob Eirík sich seiner Frau fügte, oder nicht doch Befriedigung bei seinen Sklavinnen gesucht hat, wie es in der wikingerzeitlichen Gesellschaft durchaus sein gutes Recht gewesen wäre. Aber die Geschichte wirft zumindest ein interessantes Licht auf die späteren Vorstellungen von den Rechten der Frauen in der Wikingerzeit. Es erschien im 13. Jh. also durchaus vorstellbar, dass die Frau eines angesehenen Häuptlings sich des Christentums wegen ihrem Mann verweigert.
Was aber empfanden die Wikinger als lustig?
Witze aus der Wikingerzeit sind (meines Wissens nach) nicht überliefert. In der altnordischen Literatur, niedergeschrieben etwa 200-300 Jahre nach der Wikingerzeit, scheint jedoch an vielen Stellen bissiger Wortwitz, derbe Frivolität und teils purer Klaumauk durch. Ein fachlich etwas ernsterer Text zu diesem heiteren Thema findet sich hier: