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Genderkonstrukte in der skandinavischen Wikingerzeit nach archäologischen und literarischen Quellen

[Der folgende Text ist eine Zusammenstellung von Auszügen aus meiner Dissertation. Die vollständige Arbeit mit dem Literaturverzeichnis zu den unten angegebenen Verweisen kann hier kostenlos heruntergeladen werden.]

Soziales gender und biologisches Geschlecht – Gendertheorie

Mit der Adaption der sozialen Gendertheorie [Butler 1990, 2004] in die archäologische Forschung [Gilchrist 1991, 1994; Moore; Scott 1997] ist die Frage nach möglichen Divergenzen zwischen dem sozial konstruierten Geschlecht einer Person (gender) und dem biologischen Geschlecht (Sex) zu einem Leitthema der Geschlechtsbestimmung innerhalb der archäologischen Auswertung geworden.

Während der Ausdruck ‚sex‘ dabei das faktische biologische Geschlecht bezeichnet, mit dem eine Person geboren wurde – im Normalfall weiblich/männlich – steht der, aus der angelsächsischen Gendertheorie übernommene Term ‚gender‘[1] [Gilchrist 1997] für das soziale, kulturelle konstruierte Geschlecht einer Person, das nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmen muss. Gender bestimmt dabei Verhalten, Kleidung und gesellschaftliche Interaktion (jedoch nicht auch zwangsläufig die Sexualität). Ethnologische Beispiele abseits des heutigen Transgender sind bspw. die berdache (bzw. Two-Spirits) der nordamerikanischen Indianerstämme, die als cross-gender das normative Verhalten (Habitus, soziale Rolle, Sexualität) des anderen Geschlechtes annahmen oder auch als drittes Geschlecht Merkmale beider gender vereinten [Whitehead 1981; Whelan 1991].

Das regelhafte Vorkommen von cross- oder transgender in der Ur- und Frühgeschichte lässt es notwendig erscheinen, die Möglichkeit einer Dichotomie von gender und sex bei der archäologischen Geschlechtsbestimmung zu berücksichtigen [Hjørungdal 1995].

Archäologische und osteologische Geschlechtsbestimmungen

Das biologische Geschlecht (sex) einer Person lässt sich mittels aufwendiger DNA-Untersuchungen oder durch anthropologische Untersuchungen des Skelettmateriales bestimmen, z.B. anhand der Größe und Länge der Knochen, der Form des Beckenknochens (Angulus pubicus, Foramen obturatum) oder der Formung des Schädels (Arcus superciliaris, Forma orbitae).

Das soziale Geschlecht (gender) der gesellschaftlichen Interaktion[2] hingegen wurde in den meisten ur- und frühgeschichtlichen Kulturen Europas[3] durch die Grabbeigaben respektive die Trachtelemente im Grab konstruiert und inszeniert, Schmuck und Elemente der Textilherstellung für Frauen, Waffen, Werkzeug und Paraphernalien für Unterhaltung und Spiel (z.B. Trinkgeschirr, Spielsteine) für Männer [Brather 2005:161]. Bis zur Adaption der Gendertheorie in die archäologische Forschung [Boyd 1997] wurde das genderdefinierende Fundmaterial der Gräber als Möglichkeit der archäologischen Geschlechtsbestimmung genutzt und die im Grab dargestellte Geschlechterrolle ist mit dem biologischen Geschlecht gleichgesetzt worden [Härke 2000:190]. Aufgrund der hohen Übereinstimmung zwischen Genderdefinition im Grab und biologischem Geschlecht (sex) der Bestatteten – also zwischen archäologischer und anthropologischer Geschlechtsbestimmung – im europäischen Frühmittelalter von über 90% wurde die Gendertheorie oftmals als überflüssig erachtet und widersprüchliche Geschlechtsbestimmungen mit dem Toleranzbereich von etwa 5-10% innerhalb der Fehlerspanne bei anthropologische Bestimmungen erklärt [Härke 2011:103].[4] Abseits einer Übereinstimmung von über 90% von gender und sex (beschränkt auf die Inszenierung im Grab[5]) muss auch innerhalb der europäischen Frühgeschichte die Möglichkeit von Geschlechtergrenzen überschreitendem Verhalten neben fehlerhaften anthropologischen Geschlechtsbestimmungen in Erwägung gezogen werden.[6] Darüber hinaus ist die Darstellung von gender durch Trachtelemente oder Grabbeigaben eines von mehreren Paradigmen [Härke 2003; Staecker 2009a], das im Rahmen der rites de passage [Parker Pearson 2001:22] im Bestattungskontext als wichtiges – aber nicht unverzichtbares[7] – Element Anwendung fand und neben einer reinen geschlechtsbestimmenden Funktion auch hinsichtlich der Aussage für die Deutung des gesamten Grabkontextes von großer Bedeutung ist [Härke 2000:194]. Ob sich, wie von Lucy überlegt [Lucy 1997], aus der Genderinszenierung im Grabkontext – durch genderneutrale bzw. durch fehlende Grabbeigaben oder Trachtelemente – ein drittes oder sogar viertes gender ableiten lässt, verbleibt vorerst als rein hypothetische Frage und ein conclusio e silentio [Härke 2000:193].[8]

Sexualität und Gender in der Wikingerzeit

Wie in jeder Kultur der Menschheitsgeschichte gab es auch in der Wikingerzeit homo- und intersexuelles Verhalten, nachweisbar an einer Vielzahl von literarischen Erwähnungen und umfassenden Verboten[9] jeglicher Abweichungen von der heteronormativen (Sexual-)Kultur der „rigidly gendered and homophobic societies of Late Iron Age Scandinavia“ [Göransson 1999:149]. Die maßgeblich auf männlichen Idealen wie Gewalt und Stärke basierende Ideologie und Mentalität der späten Eisenzeit und frühen Wikingerzeit ließ keinen Platz für, als schwächlich konnotiertes, homosexuelles oder effeminiertes männliches Verhalten. Der Vorwurf (passiver) homosexueller Handlungen galt als größte mögliche Beleidigung und nahm dem Beschuldigten den wesentlichsten sozialen wie ideologischen Faktor, sein Ansehen als wehrhafter Mann.

[Im Folgenden wird auf die altnordische Sagaliteratur und die altnordischen Gesetzestexte eingegangen. Diese Texte können jedoch, nicht zuletzt aufgrund der großen zeitlichen Diskrepanz zwischen der Wikingerzeit im 8.–11. Jh. und der Niederschrift der Sagas und der Gesetzestexte frühestens ab dem 12./13. Jh., nicht als verlässliche Quellen für die Wikingerzeit gewertet werden, sondern können nur als Anhaltspunkte für Mentalität und den sozio-kulturellen Kontext der Wikingerzeit fungieren. Eine intensivere Diskussion dieser Problematik findet sich in meiner Dissertation in den Kapiteln 4.1 bis 4.3.]

Anders als in den späteren kirchlichen Gesetzestexten wird in den altnorwegischen und altisländischen Gesetzen zwischen dem tatsächlichen Akt der Homosexualität und der Beschuldigung solcher Handlungen differenziert. In keinem altnordischen Gesetz steht Homosexualität unter Strafe [Meulengracht Sørensen 1983:26], aber es existieren klare Regelungen zu dem Strafbestand der Verleumdung (ýki oder fullréttisorð; z.B. in der Gulaþingslag oder der Grágás[10]), die sich zumeist auf passive Homosexualität, Geschlechtswandel (möglicherweise damit auch cross-dressing) oder andere ‚widernatürliche‘, sexuell konnotierte Verhaltensweisen beziehen. Die Strafen auf solche Anschuldigungen sind hoch, zumeist wird die große Acht, die lebenslange Verbannung aus der Gesellschaft, angedroht.[11] Einem Mann vorzuwerfen, dass er sich von einem anderen Mann sexuell penetrieren lässt (ob freiwillig oder nicht) wiegt in den altnordischen Gesetzestexten ebenso so schwer wie Mord und Vergewaltigung [Meulengracht Sørensen 1983:17]. Die für diesen Vorwurf verwendeten Termini lauten argr (Adj., ebenfalls gebräuchlich war die dazugehörige Metathese ragr)[12] oder stroðinn bzw. sorðinn.[13] Die Begriffe argr und ragr wurden auch in der altnordischen Sagaliteratur verwendet,[14] und zumindest der Term argr lässt sich durch die Inschrift auf dem Saleby-Runenstein (Vg 67) bis zum Übergang des 10./11. Jh. zurückverfolgen.[15]

Auch in der altnordischen Mythologie kommen Begriff und Konzept von argr in fest definierten, immer auf die Asengötter bezogenen Zusammenhängen vor. So gehört das argr-Konzept fest zum Charakterbild des obersten Asengottes Óðinn, der – neben seiner Bedeutung als Toten- und Kriegsgott – auch eine enge Verbindung zu magischen Riten[16] und Runenzauber bzw. Schamanismus und Ekstase aufweist [Strömbäck 1935; Price 2002:91 ff.; Steinsland 2005:162 ff.; Simek 2006:310 ff.], Elemente, die ansonsten immer eng mit der weiblichen Sphäre konnotiert werden [Morris 1991; Strassburg 2000; Soli 2002; Biering 2006; Price 2006]. So werden Óðins Kenntnisse des seið in der Heimskringla explizit mit dem Konzept von argr verbunden,[17] „En þessi fjǫlkyngi, ef framið er, fylgir svá mikil ergi, at eigi þótti karlmǫnnum skammlaust við at fara, ok var gyðjunum kend sú íþrótt.“,[18] und auch in der Lokasenna wirft Loki ihm unmännliches Verhalten vor:

’Enn þic síða kóðo     Sámseyo í,

oc draptu á vétt sem vǫlor;

vitca líki     fórtu verþióð yfir,

oc hugða ec þat args aðal.‘[19]

                                                           (Str. 24)

Mit dieser weibischen, aufgrund sexuell denotierter[20] schamanischer Riten [Ström 1973:8] teilweise auch homoerotischen Facette [Solli 1999] erhält Óðinn einen hochgradig ambivalenten und schwer fassbaren Charakter. Im Falle Óðins ist zwar die grundlegende Bedeutung von argr identisch mit der Funktion von argr und ergi in den Gesetzestexten und der Sagaliteratur, aber aufgrund seiner nicht greifbaren mythologischen Gestalt und Funktion und besonders seiner unsicheren Bedeutung in der wikingerzeitlichen Kosmologie hat der Óðinsmythos nur sehr eingeschränkte Aussagekraft bei der Interpretation des Konzeptes von argr und ergi in der sozialen Kultur und Gesellschaft der Wikingerzeit bzw. des Islands der Sagazeit.

Fassbarer im Hinblick auf direkte Analogien zur Bedeutung für die zeitgenössische Gesellschaft erscheinen Umgang und Konsequenzen der Genderfrage dagegen bei Þórr, dem generell weitaus bodenständig menschlicheren und weniger ambivalenten Donner- und Bauerngott. Þórr ist zweifelsohne der Asengott, mit dem in den Eddaliedern der meiste Spott getrieben wird,[21]­ zumeist ist sein eher schlichtes Gemüt und seine polternde Art Ziel der Schmähungen.[22] In der Þrymskvíða hingegen entsteht die gesamte Komik des Liedes durch überzeichnetes Spiel mit Geschlechterrollen. Bereits in den ersten Strophen wird der aufbrausende, bärtige Þórr – als Archetypus des Männlichen – dem Spott preisgegeben. Seine Geschlechterrolle innerhalb der Mythologie wird durch seine anscheinend überzeugende Verkleidung als Frau umgekehrt. Diese Verkleidung stellt gleichzeitig, seine Sexualität in Frage, denn die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, zeugt der altnordischen Literatur nach von Perversion, ein Umstand der Þórr durchaus bewusst zu sein scheint:

’Mic nuno æsir     argan kalla,

ef ec bindaz læt     brúðar líni‘[23]

(Str. 17)

Erst mit dem Klimax des Liedes kann Þórr sich seiner Verkleidung und der damit einhergehenden Schande entledigen und seine Männlichkeit durch einen Gewaltrausch wieder restituieren, so dass er trotz der schmähenden Handlung schlussendlich wieder als Ikone männlicher Selbstidentifikation die im Laufe des Liedes durchlässigen Gendergrenzen erneut definiert.

Anders als bei Óðins charakterimmanenter Affinität zum Spiel mit Geschlechtergrenzen negiert die Inversion der Genderrolle bei Þórr seine gesamte Bedeutung, er wird nur durch seine Maskulinität und Stärke definiert, Paradigmen, die ihm in seiner Verkleidung als Frau verloren gehen und die er erneut unter Beweis stellen muss, um seine ursprüngliche Rolle und Funktion im altnordischen Pantheon wiederzuerlangen. Die Genderproblematik innerhalb der Þrymskvíða zeigt damit am Beispiel Þórs die eigentliche gesellschaftliche Schwierigkeit des Konzeptes von ergi auf, womit auch die Sagaprotagonisten konfrontiert werden.

Zwar existierte von dem Term argr auch die feminine Form ǫrg [Meulengracht Sørensen 1983:18 f.], aber diese Anschuldigung bezog sich nicht auf homosexuelles Verhalten, sondern auf generelle Bösartigkeit wie bei der Runeninschrift von Saleby oder auf Mannstollheit, sexuelle Perversion oder Lüsternheit, wie es in der Lokasenna den beiden Göttinnen Iðunn und Freyia von Loki vorgeworfen wird:

‚Þegiðu, Iðunn!     þic qveð ec allra qvenna

vergiarnasta vera,

síztu arma þína     lagðir, ítrþvegna,

um þinn bróðurbana’[24]

                                               (Str. 18)

’Þegi þú, Freyia!     þic kann ec fullgerva,

era þér vamma vant;

ása oc álfa,     er hér inni ero,

hverr hefir þinn hór verið.’[25]

                                               (Str. 30)

Interessant an den Schmähungen Lokis in der Lokasenna ist dabei, dass er selber – ähnlich wie Óðinn – nicht innerhalb der klar definierten Gendergrenzen agiert, sondern sich neben diversen Ehebrüchen[26] von Óðinn selbst ebenfalls den Vorwurf von Geschlechterwechsel[27] gefallen lassen muss:

[...]

’átta vetr     vartu fyr iorð neðan

kýr mólcandi oc kona,

oc hefir þú þar born borit,

oc hugða ec þat args aðal.’[28]

                                               (Str. 23)

Die tatsächliche gesellschaftliche Relevanz von ergi – abseits der oben geschilderten Bedeutungen als homosexuelle Handlung oder magisch-rituell intendiertes Überschreiten von Gendergrenzen – wie sie in der altnordischen Sagaliteratur in Beleidigungen und Diffamierungen hervortritt, ist eng mit dem Konzept des níð verknüpft [Ström 1973], einer ritualisiert wirkenden Schmähung des Opponenten. Dabei ist tatsächliches homosexuelles Verhalten oder Begehren primär nicht gesellschaftlich tabuisiert,[29] sondern die Bedeutung von argr wird von der ursprünglichen sexuellen Konnotation auf moralisch-charakterliche Unzulänglichkeiten und fehlende Integrität reflektiert. Das kulturelle Männlichkeitsideal untersagte – zumindest den auswertbaren Quellen nach – weniger, sich auch sexuell zu anderen Männern hingezogen zu fühlen, als viel mehr, sich einem anderen Mann durch passive Homosexualität unterzuordnen [Meulengracht Sørensen 1983:20]. Diese Passivität und Unterordnung beim sexuellen Akt galten als Indikatoren für einen generellen weibischen, unmännlichen und feigen Charakter, dem die Dominanz und Aggression des männlichen Idealbildes fehlten.[30] Ein solcher Mann konnte in den Augen der Gesellschaft nicht mehr die sozialen Aufgaben der männlichen Sphäre erfüllen und war damit unnütz.[31] In allen ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften mit produzierender Wirtschaftsweise war ein klares Konzept der Dichotomie von Männlich–Weiblich und eine eindeutige Trennung der Geschlechterrollen,[32] bspw. geschlechtsabhängige Arbeitsteilung, notwendig zur Aufrechterhaltung der sozialen Funktionalität [Müller 2005:191]. Ein Mann, der durch einen klaren Verstoß gegen den maskulinen Wertekanon seine Rolle und Funktion als Mann nicht mehr sicher erfüllen konnte, isolierte sich selbst von der auf Genderkonstrukten basierenden Gesellschaft.

Dass weniger tatsächliche Sexualität, sondern vielmehr charakterliche Werte den wesentlichen Inhalt des Konzeptes von níð und ergi ausmachten, zeigt sich noch deutlicher als in Þórs Genderbruch der Þrymskvíða in vielen Sagas.

Berühmtestes Beispiel dafür ist sicherlich die Redensart "Þræll einn þegar hefnist, en argr aldri."[33] aus der Grettis saga Ásmundarsonar (Kap. 15). Hier wird argr explizit gleichgesetzt mit der Unfähigkeit, männliche Aufgaben bzw. Rollenansprüche zu erfüllen. Ähnlich verwendet wird der Begriff z.B. in der Gísla saga Súrssonar und der Kroka-Refs saga. In beiden Fällen ist es (vorgebliche) Feigheit, die den Protagonisten den Vorwurf von unmännlichem Verhalten, von ergi, einbringt, bei der namensgebenden Hauptfigur der Kroka-Refs saga sogar in Form des Beinamens ‚Refr inn ragi‘. Erst als Folge ihrer tatsächlichen oder anscheinenden Feigheit wird ihre Sexualität bzw. Genderrolle in Frage gestellt, nach der Prämisse, dass ein Mann, der unmännlich feige agiert, auch sexuell pervers, bzw. gar kein echter Mann sei [Ström 1973].[34] Ebenso wie Þórr kann auch Refr den Vorwurf charakterlicher Fehler und mangelnder Männlichkeit nur durch den Totschlag an allen Verleumdern von sich weisen und seine Tauglichkeit für die sozial geforderte Genderrolle als Mann beweisen.[35] In diesen Sagastellen zeigt sich klar, dass es bei dem Konzept von níð und ergi in erster Linie nicht um die Ächtung homosexueller Handlungen geht, sondern um die soziale Sanktionierung gesellschaftlich nicht akzeptabler Verhaltensweise abseits von Funktion und Aufgabe der normativen Genderrolle.

Trotz der eher spärlichen Quellenlage zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität, aus der sich keine faktischen Verbote rekonstruieren lassen, erscheint es aufgrund der Häufigkeit von (homo-)sexuellen Beleidigungen in Sagaliteratur und Mythologie jedoch fraglich, ob solches Verhalten sozial toleriert wurde. Es ist weit mehr davon auszugehen, dass die rigide Sanktionierung jeglicher Anschuldigungen von perversem oder homosexuellen Verhalten – durch die Definition mittels festgeschriebener Gesetze nur noch verstärkt – als sozialer Kontrollmechanismus wirkte, der damit auch jede homosexuelle Aktivität tabuisierte. Ebenso wäre aufgrund der Verschwiegenheit der Quellen und der Gravität der Vorwürfe von ergi zu schließen, dass homosexuelles Verhalten so fern jeder kulturellen Vorstellung und Akzeptanz lag, dass dafür keine ausgesprochenen bzw. niedergeschriebenen Regularien nötig waren. Auch macht eine Beleidigung nur dann Sinn, wenn sie auf ein gesellschaftliches Tabu referiert.

Für Frauen scheinen die sozialen Konventionen hingegen weniger streng gewesen zu sein, zumindest nach Aussage der Sagaliteratur.[36] In den Sagas haben Frauen weitaus mehr Freiheiten, ihre Genderrolle zu überschreiten oder in die maskuline Sphäre auszudehnen [Jochens 1986]. Sie sind nicht nur die Hetzerinnen hinter den Fehden der Männer – am eindrücklichsten wohl in Form der beiden Frauen Bergþóra und Hallgerður in der Brennu-Njáls saga – sondern nehmen in Einzelfällen selber aktiv Rache [Meulengracht Sørensen 1983:21 f.], wie Auðr in der Laxdœla saga (Kap. 35).

Während für einen Mann schon der Vorwurf von weibischem Verhalten schwerwiegend genug war, ihn mit – gesetzlich legitimiertem[37] – Totschlag zu vergelten, zog cross-dressing bei den Frauen der Sagas zwar Spott und Häme[38] sowie die Möglichkeit der sofortigen Scheidung nach sich,[39] anders als bei dem Vorwurf von ergi bei Männern der Fall gewesen wäre, scheint der Bruch normativer Genderkonventionen bei Frauen ohne Konsequenzen geblieben zu sein.[40]

Generell ist davon auszugehen, dass die sozialen Gendergrenzen für Frauen in der altnordischen Sagaliteratur weniger undurchlässig waren als für Männern. Während Männer mit weibischem Verhalten ihre Genderrolle verlassen und damit ihre gesellschaftliche Funktion verlieren, da sie aufgrund mangelnder Fähigkeiten bzw. körperlicher Voraussetzungen auch keine Frauenrolle übernehmen konnten, war es bei manchen Frauen in Ausnahmefällen anscheinend (kurzzeitig?) sozial toleriert, Funktionen der männlichen Sphäre zu erfüllen.[41] Allerdings ist auch bei dieser Frage die sagaimmanente Problematik der literarischen Konstruktion zu beachten. Handlungen, Ideologien und Werte der Sagas können nicht per se auf die dahinterliegende Gesellschaft des Islands im 13./14. Jh. und erst recht nicht auf die Jahrhunderte ältere Wikingerzeit transferiert werden. Neben der Deutung jeder Handlung und Schilderung auf der textlichen Ebene muss der literarische Kontext berücksichtigt werden, bei den oben genannten Beispielen liegt es nahe, dass durch die Überhöhung einzelner Frauengestalten nicht die (weniger konventionsgebundene) Genderrolle der Frau dargestellt werden sollte, sondern damit die diesen Frauen entgegengestellten männlichen Protagonisten literarisch pejorativer inszeniert wurden.[42]

Die Trennlinie in den Sagas zwischen Fiktion, literarischen Kunstgriffen und reellen Schilderungen der Vorstellungen des 13./14. Jh. von der Landnahme der Wikingerzeit – eine „historical reality“ [Byock 2001:155] – ist oftmals nur zu erahnen und von Saga zu Saga unterschiedlich.

Archäologische Hinweise auf sexuelle oder genderbezogene Abweichungen der Heteronormativität lassen sich kaum sicher fassen. Divergenzen im Bestattungsritual und der Grabausstattung lassen sich nur in den wenigsten Fällen sicher auf eine Ursache zurückführen, sondern ermöglichen zumeist eine Vielzahl von Deutungen, von denen eine ungewöhnliche Genderkonstruktion eine Möglichkeit ist [Arwill-Nordbladh 1988, 2001; Göransson 1999; Back Danielsson 2012].

In der Theorie ist der sicherste Hinweis auf ein von der Norm abweichendes Genderkonstrukt die Dichotomie zwischen dem anthropologisch bestimmten Geschlecht des Toten und der Genderinszenierung durch die Grabbeigaben (cross-dressing bzw. cross-gender) oder typische Elemente beider gender in einem Grab.

Cross-gender ist dabei kaum zu entdecken, wenn keine anthropologischen Untersuchungen am Skelettmaterial gemacht wurden. Bei einer Durchsicht des Kataloges der Wikingerzeit Gotlands [Thunmark-Nylén 2000] zeigte sich bspw. für den Fall Gotlands, dass außer bei dem Fundmaterial der Gräberfelder von Kopparsvik, Barshalder, Grötlingbo sn,[43] und Bjärge, Vallstena sn, sowie bei einigen kleineren Grabensembles[44] keinerlei anthropologische Geschlechtsbestimmungen durchgeführt worden sind.

Echtes cross-gender scheint in der Wikingerzeit Gotlands absolut selten zu sein, anders als in den vorangehenden Epochen[45] kann die Feststellung von Rundkvist zu Barshalder über die „clear-cut gender dichotomy and [...] no clearly transgressed gender attributes“ [2003b:60] bis auf drei Ausnahmen auf die gesamte Insel übertragen werden – was allerdings bei der disparaten Quellenlage aufgrund des großflächigen Fehlens von anthropologischen Untersuchungen nur tendenziöse Aussagekraft hat. Die bisher bekannten Ausnahmen, die aufgrund der anthropologischen und archäologischen Untersuchungen als mögliche cross-gender-Gräber betrachtet werden müssen sind Grab 236, Grab 272 und Grab 289 auf dem Gräberfeld von Kopparsvik. Auf diese Gräber und die grundsätzliche Problematik der Geschlechtsbestimmungen bei Kopparsvik wird weiter unten eingegangen.

Auffälliger sind im archäologischen Befund hingegen gemischte gender-kits, Grabausstattungen, die sowohl männliche wie auch weibliche Attribute enthalten und – möglicherweise als Reminiszenz an ethnologische Parallelen[46] – häufig in einen kultisch-magischen Kontext gestellt werden.

Beispiele aus der schwedischen Wikingerzeit sind das Grab der ‚Völva‘ aus Klinta,[47] die neben typischem Schmuck der Frauentracht und dem umdiskutierten ‚Zauber’Stab [Price 2002:142 ff.; Heide 2006] auch eine Axt[48] sowie Gürtelbeschläge mit sich ins Grab bekam und als heidnische Herrscherin (‚hednisk härskarinne‘) gedeutet wird [Price 2004]. Ebenso fanden sich im Grab des ‚Sami-Schamanen‘ [Zachrisson 1997:148 f.; Price 2002:271 f.] aus Funäsdalen[49] männliche wie weibliche Trachtelemente, orientalisierende Gürtelbeschläge ebenso wie Perlen und ein Nadelhaus. Andere Grabensembles mit gemischten Genderattributen lassen hingegen weitaus weltlichere Interpretationen zu, der zungenförmige Anhänger im Männergrab 110 von Bjärge, Vallstena sn, [Thunmark-Nylén 2000:772] kann ebenso als mnemonische Abschiedsgabe eines Angehörigen [Härke 2003:109 ff.; Staecker 2009:484; Price 2012:270 f.] gedeutet werden wie die kleine ovale Schalenfibel beim männlichem Skelett im Doppelgrab 117–118 von Havor, Hablingbo sn [Thunmark-Nylén 2000:298 f.].

Während das Grab der ‚Völva‘ von Öland aufgrund des Stabes[50] möglicherweise in einem kultisch-religiösen Kontext zu betrachten ist, weisen einzelne Waffen in norwegischen Frauengräbern die dort Bestatteten als sozial hochstehend oder mit einer wichtigen gesellschaftlichen Funktion versehen aus.[51] Die traditionelle Deutung dieser Bestattungen als Doppelgräber mit schlechter Erhaltung des Knochenmateriales, mangelnder Dokumentation oder unzureichender anthropologischer Untersuchung kann aufgrund der Anzahl von etwa 20 Fällen [Lauritsen; Thirup Kastholm Hansen 2003] nicht gehalten werden. Und auch dieSchilderungen genderübergreifenden Verhaltens von Frauen in der Sagaliteratur lässt Waffensymbolik in Frauengräbern als Metapher sozialer Würde möglich erscheinen, [52] wenn auch dem aktuellen Forschungsstand nach eher auf einen westnordischen Kreis beschränkt.[53]

Rituelles cross-dressing oder die Inszenierung einer erweiterten Genderrolle aus kultischen oder – wie im Falle der waffenführenden norwegischen Frauengräber – sozialen Gründen lässt sich durch vergleichende anthropologische und archäologische Untersuchungen zumindest identifizieren, wenn auch in den absolut meisten Fällen keine sichere Interpretation möglich ist. Eine abweichende Sexualität der Toten lässt dagegen im Grabkontext nicht nachvollziehen, auch wenn für einige divergierende Bestattungssitten möglicherweise ebenfalls ein sexuell konnotierter Hintergrund in Erwägung gezogen werden kann.

In Relation zu dem klar pejorativen Bedeutungsinhalt des Konzeptes von ergi erscheint es bei Adaption altnordischer literarischer Moralvorstellungen auf die Ideologie der Wikingerzeit möglich, bspw. die gelegentlich vorkommenden, als despektierlich oder schmähend interpretierten Bestattungen – Bauchlage, Fesselung, Fixierung durch Steine oder Holzruten – als gesellschaftliche Konsequenz für sexuelles ‚Fehlverhalten‘ abseits der erwarteten Heteronormativität zu interpretieren. Eine weitere Bestattungsform, für die eine (homo-)sexuelle Erklärung möglich wäre, sind Doppelgräber von zwei Männern, in denen durch die Lage der Toten eine körperliche Relation hergestellt wird.[54] Darüber hinaus lassen sich gleichgeschlechtliche Doppelgräber über familiäre Beziehung erklären oder über das altnordische Konzept von Ziehbrüdern (fóstbróðir) bzw. enger sozialer Partnerschaft wie Handelsgenossen (félagi), Teilhaber, Partner (nautr) oder Blutsbruderschaft (bróðirlag).

Bei der Interpretation von Bestattungen erscheint es wichtig, über eine rein archäologische Geschlechtsbestimmung anhand von Beigaben und Trachtelementen auch die Dichotomie zwischen gender und sex zu beachten. Die Inszenierung von Genderrollen im Bestattungskontext – nicht unbedingt deckungsgleich mit dem Genderkonstrukt der realen Gesellschaft [Härke 2000:195] – ist ein ebensolches Paradigma im Begräbnisritus wie die Darstellung von Ansehen, Einfluss und Wohlstand. In Einzelfällen sollte die mögliche Existenz zusätzlicher Genderrollen über das heutige normative Konstrukt hinaus in Erwägung gezogen werden,[55] auch wenn die traditionelle ‚viktorianisch stereotype‘ Sicht [Härke 2011:98] auf Geschlechterrollen zumindest für die späte Eisenzeit und Wikingerzeit näher „in time and attitude“ [Härke 2011:98] zu sein scheint, als das heutige Genderverständnis auf Grundlage „liberal-akademischer Idealvorstellungen“ [Härke 2000:193].


[1] Zur Terminologie ‚gender‘ und den deutschen Begrifflichkeiten siehe Härke [2000:181].

[2] Geschlechtsabhängige Arbeitsteilung ist als Element der Konstruktion von Geschlechterrollen für alle ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften mit produzierender Wirtschaftsweise nachzuweisen [Müller 2005:191].

[3] Ausnahmen sind bspw. die keltischen Gesellschaften Westbritanniens, Schottlands und Irlands sowie die romanischen Kulturen des europäischen Mittelmeerraumes [Härke 2000:190].

[4] Vgl. dazu die höheren Zahlen für cross-gender-Bestattungen, die Gilchrist für einige angelsächsische Gräberfelder anführt [Gilchrist 1997:49 ff.], dagegen Härke [2000:192].

[5] In der gesamten Genderdiskussion darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gräber nicht wie von Gilchrist postuliert zur Identifikation von Genderbeziehungen im sozialen Leben herangezogen werden dürfen (“Objects placed in graves […] may relate as much to the negotiation or transforming of gender in death, as reflect gender relations in life.” [Gilchrist 1997:47]), sondern immer nur als Ritual zur Inszenierung und Konstruktion „einer differierenden, nicht auf der Norm des Lebenden aufbauenden Welt zu sehen“ [Staecker 2009a:497] sind.

[6] „Archaeologists must work with an awareness of the dichotomy between natural, biological sex and constructed, cultural gender.“ [Parker Pearson 2001:95].

[7] Im Grabmaterial von Kopparsvik ist in etwa 177 Gräbern (55%) von 323 gesicherten Bestattungen das gender der Toten durch Trachtelemente oder Grabbeigaben dargestellt, 40 Gräber (12%) sind gender-neutral, 106 Gräber enthalten keine Funde und damit keine Genderinszenierung. Für den angelsächsischen Raum des 5./6. Jh. führt Härke nahezu identische Prozentwerte an [Härke 2011:101].

[8] Bei der Betrachtung angelsächsischer Grabinventare mit divergierendem gender–sex-Verhältnis fällt auf, dass abweichend bspw. zum skythischen und sarmatischen Raum nur ‚echte‘ cross-gender-Inszenierungen vorkommen, die Gräber enthalten demnach nur weibliche oder männliche Genderattribute, aber keine gemischten Ausstattungen, bspw. mit Waffen und (Frauen-)Schmuck [Härke 2011:103].

[9] Dabei ist es irrelevant, ob die Erwähnung bestimmter Sachverhalte in Gesetzestexten als präskriptiv oder deskriptiv interpretiert wird, vgl. dazu Karlsson [1972].

[10] „Orð ero þau er fullrettis orð heita. þat er eitt ef maðr kveðr at karlmanne oðrom. at hann have barn boret. þat er annat. ef maðr kveðr hann væra sannsorðenn.þat er hit þriðia.“, Gulaþingslag 196, in: NGL, I, 70.

„Ef maðr gørir ýki um mann oc varðar þat fiörbavgs garð; [...] Ef maðr kallar man ragan eða stroðinn. eða sorðinn.“, Grágás, 2, 392.

[11] „þa scal hann böta hanom fullum rette firi. þar ma han oc viga um. at utlogum þeim manne i gegn þeim orðom er nu hevi ec talt.“, Gulaþingslag 196, in: NGL, I, 70.

„Engi scal gera yki um annan. æda fiolmæle. þat heiter yki ef maðr mælir um annan þat er eigi ma væra. ne verða oc eigi hever verit. kveðr hann væra kono niundu nott hveria. oc hever barn boret. oc kallar gylvin. þa er hann utlagr.“ , Gulaþingslag 138, in: NGL, I, 57.

[12] Subst. ergi bzw. regi zum Verb ergjask (schwach, feige, weibisch werden).

[13] Partizip der Verben streða bzw. serða (von einem anderen Mann sexuell benutzt werden).

[14] „Svá ergisk hverr sem eldisk“ („So wird jeder weibisch, der altert“; Übersetzung des Verfassers), Hrafnkels saga Freysgoða, Kap. 8.

[15] Der Saleby-Runenstein in Västergötland, Schweden, kann aufgrund des einfachen Verzierungsstils in die älteste Stilgruppe RAK nach Gräslund [2006] eingeordnet werden und datiert damit in die Zeit zwischen 980 – 1015 [Gräslund 2006:126]. Die Inschrift lautet (nach dem Eintrag im Project Samnordisk Runtextdatabas):

 + fraustin + karþi + kubl * þausi + aftiR + þuru + kunu + sino + su ... ...(s) + tutiR bast + miþ + altum + uarþi at + rata + au=k + at arkRi '+ kunu + saR + ias haukui + krus + -... + uf + briuti

„Freysteinn machte dieses Monument nach seiner Frau Thora. Sie war die Tochter (von ...), die beste in ihrem Alter. Möge niederstürzen/ein Hexer werden (Übers. des Verf./Übers. Project Samnordisk Runtextdatabas) und eine bösartige/perverse Frau wer (in) Stücke schlägt ... und bricht.“ (Übersetzung des Verfassers).

[16] Magisches Wissen und Fähigkeiten sind nach Aussage der Merseburger Zaubersprüche keine rein altnordische Facette der pangermanischen Wotan/Óðinn-Figur.

[17] Ynglingasaga, Kap. 7; Möglicherweise spiegelt diese bewusst pejorative und schändlich weibische Darstellung von Óðins Zauberkünsten durch Snorri Sturluson, den Verfasser der Heimskringla mehr christliche als tatsächlich authentisch altnordische Vorstellungen.

[18] Ynglingasaga, Kap. 7; „Aber diese Zauberkunst, wenn sie ausgeübt wird, verursacht so viel Schande (ergi), dass die Männer sie nicht schandlos betreiben zu können meinten, und dieses Wissen war den Priesterinnen (gyðja) vertraut.“ (Übersetzung des Verfassers).

[19] „Aber du, sagte man, zaubertest                 auf Samsey,

und du triebst Hexerei wie die Seherinnen;

in Zauberers Gestalt                  zogst du durchs Menschenvolk,

und das halte ich für eines unmännlichen Art.“ (Übersetzung nach Krause [2004:150]).

[20] Eine Hypothese für die Verknüpfung von seiðr mit dem Konzept von ergi ist nach Heide die metaphorische Penetration und Besessenheit des (männlichen) seiðmanns durch metaphysische Entitäten [2006:355 f.].

[21] Anders als in der christlichen Literatur, in der jede Form von Komik generell selten ist, darf ähnlich dem ‚homerischen Gelächter’ der Ilias (I, 599) und der Odyssee (VIII, 326) in der griechischen Literatur im Altnordischen auch über die Götter gelacht werden. Gerade Spottverse und Geschlechterkomik spielen in der Götterkomik der Edda eine große Rolle, anders als in der Sagaliteratur, in der sich eher satirische, teils gesellschaftskritische Anspielungen als mahnende Elemente finden (z.B. in der Bandamanna saga oder dem Ǫlkofra þáttr).

[22] Z.B. im Hárbarðljóð, in dem er in einem Disput mit seinem verkleideten Vater Óðinn als tumber und gewalttätiger Angeber portraitiert wird und dabei u.a. seinen Gegenüber (den verkleideten Óðinn) als ragi (Str. 27) beleidigt, eine von ihm auch in der Lokasenna genutzte Provokation („Þegi þú, rǫg vættr!“ („Schweige Du, perverser Wicht“; Übersetzung des Verfassers), Str.57, 59, 61, 63).

Auch in der Lokasenna und der Gylfaginning wird Þórr – allerdings weit weniger subtil – aufgrund seiner einfachen Art und seiner Vorliebe für gewaltorientierte Problemlösung dem Spott der Rezipienten ausgesetzt, anders als im Hárbarðljóð steht er jedoch in beiden Erzählungen am Ende als Sieger da, in der Gylfaginning wird darüber hinaus in durch Auflösung der Geschehnisse Þórs gewaltige Macht verdeutlicht und sein, im Verlauf der Handlung angegriffenes Ansehen wieder hergestellt.

[23] „Mich werden die Asen unmännlich nennen,

wenn ich mir umbinden lasse                 das Linnen der Braut.“ (Übersetzung nach Krause [2004:166]).

[24] „Schweig, Idun!             Dich nenn ich von allen Frauen

         die Mannstollste,

seit du deine Arme,   die herrlich gewaschenen, legtest

         um deines Bruders Mörder.“ (Übersetzung nach Krause [2004:148]).

[25] „Schweig, Freyja!          Dich kenn ich ganz genau,

dir fehlt kein Laster;

von den Asen und Alben,         die hier drinnen sind,

ist jeder dein Geliebter gewesen.“ (Übersetzung nach Krause [2004:151]).

[26] Z.B. mit Skaði, der Frau Niǫrðs (Lokasenna, Str. 52) oder mit Sif, Þórs Frau (Lokasenna Str. 54).

[27] Bei der Errichtung von Asgarð verwandelte sich Loki in eine Stute, um den Hengst des Baumeisters abzulenken, was zu der Geburt von Óðins Hengst Sleipnir führte (Gylfaginning, Kap. 52; Hyndloljóð, Str. 40).

[28] „Acht Winter                   warst du unter der Erde

eine Milch gebende Kuh und eine Frau,

und du hast dort geboren,

und das halt ich für eines Unmännlichen Art.“ (Übersetzung nach Krause [2004:149 f.].

[29] Dies zeigt auch das Fehlen von Verboten jeglicher homosexueller Handlungen in den altnordischen Gesetzestexten, sanktioniert wird nur der Vorwurf solchen Verhaltens [Meulengracht Sørensen 1983:26].

[30] Das gesamte Konzept von ergi bezieht sich ausschließlich auf den passiven Part bei homosexuellen Handlungen. Aktive Homosexualität scheint von dieser Begrifflichkeit und der damit einhergehenden Wertung nicht betroffen zu sein. Allerdings könnte der aktive Part – als ‚phallic aggression‘ [Meulengracht Sørensen 1983:27 f.] – als eine Schändung und Erniedrigung des passiven Parts verstanden worden sein und damit als unloyales Verhalten einem Freund gegenüber bei einem einverständlichen Akt bzw. als Form sexueller Gewalt gegenüber einem unterlegenen Gegner. Als Beispiel für phallische Aggression bei vorgeblich einvernehmlicher Homosexualität kann eine Stelle aus der Gísla saga Súrssonar angeführt werden (Kap. 1), in der auch Gísli als angeblich aktiver Part durch das tréníð geschmäht wird [Ström 1973]. Beispiele für (homo-)sexuelle Gewalt finden sich besonders in der Sturlunga saga, z.B. in der Guðmundar saga dýra und der Áróns saga Hjǫrleifssonar [Meulengracht Sørensen 1983:82].

[31] Dasselbe galt für Greise, die aufgrund altersbedingter körperlicher Gebrechen nicht mehr ihre Funktion als Mann erfüllen konnten, in der Hrafnkels saga Freysgoða wird in einem Sprichwort explizit die Verbindung von weibisch-unmännlichem Verhalten und dem Alter hergestellt („Svá ergisk hverr sem eldisk“ („So wird jeder weibisch, der altert“; Übersetzung des Verfassers), Kap. 8) und auch einen der größten Sagahelden, Egill Skalla-Grímsson, trifft dieses Schicksal am Ende seines Lebens (Egils saga Skalla-Grímssonar, Kap. 85).

[32] Eine Beleidigung, die nach der Gulaþingslag volle Kompensation zur Folge hatte (fullréttisorð), war neben dem Vorwurf, jede neunte Nacht zu einer Frau zu werden auch die Anschuldigung, als Mann ein Kind geboren zu haben, also der absolute Eingriff in die Sphäre der weiblichen Genderrolle;

„Orð ero þau er fullrettisorð heita. þat er eitt ef maðr kveðr at karlamanne oðrom, at hann have barn boret [...].”,Gulaþingslag 196, in: NGL, I, 70.

[33] „Ein Unfreier rächt sich sofort, ein Feigling/Unmännlicher nie.“ (Übersetzung des Verfassers).

[34] „Heldr var hann kona ina níundu hverju nótt ok þurfti þá karlmanns, ok var hann því kallaðr Refr inn ragi:“ („Er war eine Frau jede neunte Nacht und brauchte da einen Mann, und deshalb war er Ref der Weibische genannt worden“; Übersetzung des Verfassers), Kroka-Refs saga, Kap. 7.

[35] „En mikit þykir verkit orðit hafa eins manns ok á einu aftankveldi ok þykir Refr óslælega rekit hafa illmælit.“ („Aber vielen scheint dies eine große Tat gewesen zu sein von einem einzelnen Mann und an einem Abend und es schien, dass Refr die Verleumdung hart gerächt habe“; Übersetzung des Verfassers), Kroka-Refs saga, Kap. 9.

[36] In der archäologischen Forschung herrschte hingegen längere Zeit eine eher androzentrische Betrachtungsweise vor, in der die Frauenrolle der Wikingerzeit weitaus weniger aktiv interpretiert wurde. Siehe dazu Samson [1991], Jesch [1991] und Arwill-Nordbladh [2001].

[37] Gulaþingslag 196, in: NGL, I, 70.

[38] „Hvárt er þat satt, Þórðr, at Auðr, kona þín, er jafnan í brókum, ok setgeiri í, en vafitspjörrum mjök í skúa niðr?“ („Ist es wahr, Thord, dass Aud, deine Frau, immer in Hosen ist, mit einem (Gesäß-)Zwickel darin, und Wickelgamaschen bis zu den Schuhen herunter“; Übersetzung des Verfassers), Laxdœla saga, Kap. 35.

[39] Laxdœla saga, Kap. 35.

[40] Aus zwei Sagas sind Frauen bekannt, die durch ihren Beinamen mit dem Tragen von langen Hosen in Verbindung gebracht werden, Brœkr-Auðr (Laxdœla saga, Kap. 35) und Hallgerðr Langbrók (Laxdœla saga, Kap. 9; Brennu-Njáls saga, Kap. 9). Abgesehen von der Scheidung der Auð in Kap. 35 der Laxdœla saga wird keine der beiden Frauen mit ernsthafteren Konsequenzen konfrontiert.

[41] Nach Clover [1989, 1993] liegt der Hintergrund dazu in dem ‚one gender model‘ des altnordischen Geschlechterverständnis, demnach das einzige gendernormative Idealbild das des wehrhaften, martialischen Mannes war, dazu auch Sandquist [2012].

[42] Bspw. ist bei der Erwähnung der beiden hosentragenden Frauengestalten in Laxdœla saga und Brennu-Njáls saga zu beachten, dass der unbekannte Verfasser der Brennu-Njáls saga die Laxdœla saga gut gekannt haben muss und diese teilweise massiv rezipiert [Kristjánsson 1994:302 ff.].

[43] Für Barshalder finden sich die anthropologischen Untersuchungen bei Rundkvist [2003b].

[44] Einige Gräber bei Botvide, Öja sn (SHM 26144), sowie die fünf Gräber bei Butter, Väskinde sn (SHM 32426).

[45] Für die Völkerwanderungs- und Vendelzeit führt Rundkvist bei der Untersuchung von Barshalder einzelne Fälle von möglichem cross-gender an [Rundkvist 2003b:42, 54 f.], was nach Petré [1984:199 f.] für die späte Eisenzeit nicht ungewöhnlich sei.

         Ähnliches gilt für das angelsächsische Frühmittelalter, Härke führt mehrere Fälle von möglichem cross-gender an, auffällig ist dabei, dass nie gemischte gender-kits beobachtet wurden, die bspw. Waffen und Frauenschmuck beinhalteten [Härke 2011:103].

[46] Bspw. die Schamanen der Chuckhi im nord-östlichen Sibirien, die yirka-lául (‚soft men‘), die – obwohl biologische Männern – die weibliche Genderrolle einnehmen, Frauenkleidung tragen und Männer heiraten [Price 2002:301 ff.]. Weitere ethnologische Parallelen aus dem nordeurasischen Bereich finden sich bei Grambo [1991].

Zur Deutung von Symbolik und Funktion des Genderwechsels von Schamanen siehe Grambo [1991:135 f.] und die dort angeführte Literatur.

[47] Köpings sn, Öland; SHM 25840:59:3.

[48] Äxte oder Speere finden sich in mehreren – häufig reich ausgestatteten – estnischen Frauengräbern des 11. und 12. Jh. von der Insel Saaremaa [Mägi 2002] und teilweise auch in Finnland.

[49] Tännäs sn, Härjedalen; SHM 15052:9.

[50] Zur Deutung von Funktion und Symbolik der Stäbe als magisch-rituelles Element siehe Price [2002:181 ff.] und Gardeła [2008], eine fundierte Interpretation als ‚mätstav‘ findet sich bei Gustin [2004:129 ff., 283 ff.].

[51] Zur Interpretation der Machtsymbolik von Waffen siehe Jakobsson [1992].

[52] Die oftmals angeführten Abbildungen speer- und schildtragender Frauen [Bennike; Christensen 1983] auf dem Bildteppich des Oseberg-Grabes [Hougen 1940] müssen hingegen in einem kultisch-mythologischen Kontext gesehen werden, möglicherweise in Analogie zu den Darstellungen von Frauen auf gotländischen Bildsteinen.

[53] Vgl. dazu die regional divergierende Sitte der Waffenbestattungen nach Jakobsson [1992:140 ff.].

[54] Bspw. die Gräber 128/129 und 158/159 auf dem Gräberfeld von Kopparsvik. In beiden Doppelgräber liegen die männlichen Toten auf dem Bauch, in Gr128/129 liegt die Hand des einen Mannes auf der Schulter des anderen Bestatteten, in dem zweiten Doppelgrab liegt der Arm den Mannes aus Gr159 über dem Mann in Gr158, dessen Arm liegt unter dem ersten Toten.

[55] Vgl. dazu die Definition eines ‚binary [gender] system‘ bei Lesick, das als Rahmenkonstrukt für eine Diversität verschiedener ‚femininities‘/‘masculinities‘ [1997:35] fungiert.