Schon in der Frühzeit der Erforschung der skandinavischen Wikingerzeit stießen Archäologen auf Funde, die auf enge Verbindungen zwischen Ostskandinavien, der osteuropäischen Ebene in den heutigen Staaten Ukraine und Russland, dem byzantinischen Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, und dem arabischen Kalifat hindeuteten. Wie intensiv diese Beziehungen aber tatsächlich waren und welche Rolle schwedische Wikinger bei der Gründung des altrussischen Staates spielten, war jedoch lange in der Forschung umstritten und noch immer liefern neue Entdeckungen überraschende Einsichten in einen beinahe globalisiert wirkenden nord- und osteuropäischen Kulturraum.
Ende des 19. Jh. führten die ursprünglich entomologischen Forschungen des Naturwissenschaftlers Hjalmar Stolpe zum Beginn der archäologischen Untersuchung in Birka, dem berühmten wikingerzeitliche Handelsplatz Birka auf der Insel Björkö, etwa 30 km westlich der heutigen schwedischen Hauptstadt Stockholm. Schon bei den ersten Ausgrabungen der über 2000 noch erhaltenen Grabhügeln stießen die Archäologen auf Gegenstände wie Gürtel- und Taschenbeschläge, die sich stilistisch von dem sonst bekannten nordeuropäischen Fundmaterial unterschieden und auf Verbindungen zu den seminomadischen Turkvölkern der eurasischen Steppe im heutigen Russland und zu der islamischen Welt des abbasidischen Kalifates hindeuteten. Ein gutes Jahrhundert zuvor hatten einige geschichtswissenschaftliche Vorträge an der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften, die von russischer Seite auf eine enge wikingerzeitliche Verbindung zwischen Skandinavien und dem Altrussischen Reich hinwiesen, für Aufsehen und politische Proteste gesorgt. Auf Grundlage der sogenannten Nestorchronik postulierten deutsche und später auch schwedische Wissenschaftler, dass die Gründung des Altrussischen Reiches im 9. Jh. durch eine skandinavischstämmige Elite erfolgt sei, denen von einheimischen Stämmen die Herrschaft angetragen worden sei. Vor dem Hintergrund des erst einige Jahre zuvor beendeten Großen Nordischen Krieges zwischen Schweden und dem Russischen Zarenreich barg diese Vorstellung enorme politische Sprengkraft und teilte die Forschung für lange Zeit in zwei Lager: die Normannisten, die das Altrussische Reich als Gründung schwedischer Wikinger ansahen, und die zumeist russischen Antinormannisten, die einen skandinavischen Einfluss bei der Reichsgründung weitestgehend negierten. Während über die historische Zuverlässigkeit von Schriftquellen – besonders im Falle der Anfang des 12. Jh. im Umfeld des Kiewer Hofes entstandenen Nestorchronik –gestritten werden kann, lassen sich viele archäologische Funde in den frühen Zentren des Altrussischen Reiches nur durch die Präsenz einer etablierten skandinavischstämmigen Oberschicht erklären.
Der mythische Ursprung der Rus
Die Nestorchronik berichtet, dass im Jahr 859 n. Chr. als Waräger bezeichnete Krieger von jenseits des Meeres kommend bei den einheimischen slawischen, baltischen und finnischen Stämmen im nordwestlichen Teil des heutigen Russlands Tribut gefordert hätten. Gegen diese Forderungen erhoben sich die Volksstämme wenige Jahre später und vertrieben die Waräger. Dann aber kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen und sie entschieden, den auch als Rus bezeichneten Waräger die Herrschaft über ihre Völker anzutragen. Die Rus entsandten demnach im Jahr 862 drei Brüder mit ihren Sippen, um dort die Herrschaft zu übernehmen. Rjúrik, der älteste der Brüder, soll sich zuerst in Staraja Ladoga am Ladogasee niedergelassen und später Rjurikowo Gorodischtsche am Ilmensee, die Vorgängersiedlung des späteren Nowgorod, gegründet haben. Unter der Führung eines Mannes namens Oleg, als Vormund von Rjúriks minderjährigem Sohn Prinz Igor, eroberten die Rus die ostslawische Siedlung Kiew, die seit etwa zwei Jahrzehnten von einer anderen Gruppe von Warägern beherrscht wurde. Die Vereinigung der beiden Zentren Rjurikowo Gorodischtsche und Kiew im Jahr 882 gilt als Geburtsstunde des Reiches der Kiewer Rus, das seine Blütezeit und größte Ausdehnung unter Rjuriks Ururenkel Jaroslaw dem Weisen in der Mitte des 11. Jh. erlebte. Die Dynastie der Rjurikiden stellte bis zum Übergang vom 16. zum 17. Jh. die Großfürsten und Zaren in Moskau (darunter auch Iwan IV. den ‚Schrecklichen‘) und im modernen Wappen der Ukraine hat sich bis heute das Siegel der frühen Fürsten der Rjurikiden erhalten. Und nicht zuletzt der Name des modernen Staates ‚Russland‘ ist auf die ursprünglich aus Skandinavien stammenden Rus zurückzuführen.
Ein Handelsnetzwerk als Keimzelle des altrussischen Staates
Eine skandinavische Präsenz lässt sich am nordwestrussischen Handelsplatz von Staraja Ladoga schon ab der Mitte des 8. Jh. nachweisen. Das in den altnordischen Sagas als Aldeigjuborg bezeichnete Staraja Ladoga fungierte als ostbaltischer Ausgangspunkt eines Handelsnetzwerkes, das sich von Birka in Schweden über die russischen Flusssysteme von Wolga und Dnjepr bis zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer erstreckte. Im Laufe des späten 9. Jh. entstanden aus oftmals slawischen Siedlungen entlang der großen Flüsse befestigte Handelsplätze, die der Kiewer Rus den altnordischen Namen Garðaríki – Reich der befestigten Städte – gaben, und die als Umschlagplatz für Waren und zur Kontrolle der Handelswege fungierten. Von Staraja Ladoga führte die Route den Wolchow hinauf in den Ilmensee nach Rjurikowo Gorodischtsche, dem altnordischem Holmgarð, einem bereits zu Beginn des 9. Jh. befestigten Platz mit Kontrolle des Zuganges zu den beiden zentralen Wasserstraßen Wolga und Dnjepr. Die strategische Lage am Ilmensee inmitten der fruchtbarsten Region des nordwestlichen Russlands machte Rjurikowo Gorodischtsche und das Ende des 10. Jh. wenige Kilometer weiter nördlich gegründete Nowgorod zum politischen und merkantilen Zentrum der nordwestlichen Rus. Vom Ilmensee aus erreichten die Händler der Rus über die Wolga die Jaroslawl-Wladimir-Region mit den Siedlungen von Timerewo, Petrowskoje und Michailowskoje und dem befestigten Handelsplatz von Sarskoje Gorodischtsche beim heutigen Rostow. Weiter auf der Wolga gelangten die Rus zum wolgabulgarischen Handelszentrum von Bolgar, dem wichtigsten Umschlagplatz für den Handel mit Zentralasien, weiter bis in das Kaspische Meer und von dort über Land nach Bagdad, der Hauptstadt des arabischen Kalifates. Über kleinere Flüsse gelangten die Rus vom Ilmensee zudem in den Dnjepr, der zentralen Verkehrsachse von Norden nach Süden, an dessen Oberlauf im späten 9. Jh. Gnezdovo beim heutigen Smolensk als befestigter Umschlag- und Kontrollplatz etabliert wurde. Wie auch in Sarskoje Gorodischtsche weisen viele Funde aus den über 3000 Grabhügeln der umliegenden Friedhöfe von Gnezdovo einen nordischen Einschlag auf und deuten auf die Anwesenheit einer skandinavischstämmigen Kriegerelite hin. Am südlichen Ende der Route über den Dnjepr zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel, Miklagarð, der großen Stadt, lagen Shestovitsa und Chernigov und mit Kiew, das altnordische Kænugarð, das politische Machtzentrum der Rus.
Von den Warägern bis zu den Griechen – Der lange Weg nach Byzanz
Die Reise über die russischen Flusssysteme bis in das Schwarze Meer war strapaziös und gefährlich, wie viele Runensteine in Schweden beweisen, die zur Erinnerung für Männer errichtet wurden, die ‚í austrvegi‘ – auf dem Weg nach Osten – ihr Leben gelassen hatten. Teilweise mussten Schiffe und Waren – Felle und Pelze, Schwertklingen und Sklaven – über Land geschleppt werden, um zum nächsten Flusssystem zu gelangen oder um die gefährlichen Stromschnellen am Unterlauf des Dnjepr zu überwinden. Diese stellten eine solche Bedrohung für die Schifffahrt dar, dass ihre slawischen wie auch altnordischen Namen überliefert sind. Besonders die Felsschwellen, welche die vierte Stromschnelle verursachten, waren so schwierig zu überwinden, dass bereits ihr altnordischer Name, Aifor, in Skandinavien als Synonym für eine waghalsige Reise stand: „Sie kamen weit hinein in den Aifor“ heißt es auf dem Runenstein von Pilgårds auf Gotland im Angedenken an eine in den Stromschnellen des Dnjepr verunglückte Expedition. Zudem bestand an den Stromschnellen immer die Gefahr von Angriffen durch die Petschenegen, einem seminomadischen Turkvolk, das die Steppen der Krim und der Schwarzmeersenke beherrschte. Die risikobehaftete Unternehmung einer Reise von Birka oder Staraja Ladoga aus über die Flusssysteme der osteuropäischen Ebene zum Schwarzen Meer bot jedoch Aussicht auf enorme Gewinne und vor allem Zugang zu den Märkten der byzantinischen Kaiserstadt Konstantinopel und der Kalifenstadt Bagdad mit dem dortigen Angebot an Luxuswaren wie Seide oder Gewürzen.
Waräger in Byzanz – Zwischen Bedrohung und Leibgarde
Das Verhältnis zwischen der Kiewer Rus und Byzanz war ambivalent. Mehrfach kam es zu Plünderungen der byzantinischen Schwarzmeerküste und zu Angriffen auf Konstantinopel, die Mitte des 10. Jh. zu mehreren Friedensverträgen zwischen den byzantinischen Kaisern und den Großfürsten in Kiew führten. Diese Verträge enthielten auch Bestimmungen über den Handel und erlaubten den Händlern der Rus unter bestimmten Auflagen Zugang zu den Märkten in Konstantinopel. Zudem gewährte der byzantinische Kaiser den als Warägern bezeichneten Kriegern aus der Rus das Recht, als Söldner in die Dienste des byzantinischen Reiches treten. Die beeindruckende Kampfkraft von 6000 skandinavischen Kriegern sicherte Ende des 10. Jh. die Herrschaft des Kaisers Basileios II. und führte zur Bildung der berühmten Warägergarde, einer kaiserlichen Leibwache aus skandinavischstämmigen Kriegern, in der Mitte des 11. Jh. mit Harald Harðráði zeitweise ein späterer norwegischer König diente. Sehr persönliche Zeugnisse der Anwesenheit skandinavischer Krieger in der kaiserlichen Leibwache stellen einige Inschriften in nordischen Runen dar, die auf einer Empore in der (ehemaligen) Kathedrale der Hagia Sophia eingeritzt sind.
Die Rus als multiethnische Kultur
Harald kehrte nach über einem Jahrzehnt Dienst in der Warägergarde nach Skandinavien zurück, um dort seinen Anspruch auf den norwegischen Thron durchzusetzen. So wie er werden viele Skandinavier, die als Händler oder Söldner im Osten ihr Glück versucht hatten, nach einiger Zeit wieder in die Heimat zurückgekehrt sein, und dabei neue kulturelle Einflüsse mitgebracht haben. Das zeigt sich eindrucksvoll an der großen Menge von orientalisierendem Fundmaterial in Birka. In vielen Gräbern und im Bereich der Siedlung fanden sich Trachtelementen wie geknöpfte Kaftane mit Seidenbesatz und Silber- und Golddrahtstickereien, die auf den byzantinischen Kaiserhof hindeuten, metallbeschlagene Gürtelgarnituren und Säbeltaschen sowie Lamellenpanzer und Kompositbögen aus der Bewaffnung der Reitervölker der eurasischen Steppe, zudem Mengen von arabischen Silberdirhems. Ein Teil der Skandinavier wird sich jedoch in der Kiewer Rus niedergelassen haben. Im Laufe des 10. Jh. assimilierten sich die skandinavischstämmigen Rus in der slawischen Gesellschaft, sie adaptierten slawischen Namen und die Bedeutung von ‚Rus‘ verschob sich in den Quellen von der Bezeichnung für eine skandinavische Herkunft hin zu dem Namen für die Einwohner des Herrschaftsgebietes der Kiewer Rus in Abgrenzung zu dem Begriff ‚Waräger‘ für skandinavischstämmige Händler und Söldner. Maßgeblich forciert durch die Bedeutung der slawischen ‚drushína‘ als kriegerische Gefolgschaft, in der Skandinavier zusammen mit Angehörigen von slawischen, baltischen und finno-ugrischen Stämmen kämpften, entstand eine gemeinsame Identität, die sich über die ethnische Herkunft hinweg durch die Zugehörigkeit zu einer kollektiven, stark von einer Kriegerideologie geprägten Kultur definierte. Diese kollektive kulturelle Identität verschiedenster Ethnien drückte sich in der Adaption bestimmter Symbole und Verzierungsstile aus, die aus skandinavischen, slawischen und steppennomadischen Einflüssen zu einem eigenständigen kulturellen Charakter verschmolzen, der im Fundmaterial vieler Nekropolen in der Kiewer Rus ebenso fassbar ist wie in Birka, deren Einwohner sich teilweise wohl als Angehörige dieser Kultur der Rus sahen. In der russischen Forschung wird diese Mischkultur der Rus als Ethnogenese aus skandinavischen, slawischen, byzantinischen und teilweise auch steppennomadischen Elementen daher als ‚Gefolgschaftskultur‘ (‚družinnaja kul‘tura ‘) bezeichnet.
Von heidnischen Wikingern zu christlichen Slawen
Spätestens mit der Christianisierung der Rus unter Wladimir I. dem Großen 988 und seiner Hochzeit mit Anna von Byzanz, der Schwester des byzantinischen Kaisers Basileios II., war aus dem Einflussbereich einer skandinavischstämmigen Elite zur Kontrolle der Handelswege von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ein slawisch geprägtes und in das christlich-europäische Mittelalter eingebundenes Großfürstentum entstanden. Obwohl die Führungselite der Kiewer Rus ab dem Ende des 10. Jh. weitestgehend slawisiert war und nicht mehr viele Aspekte der skandinavischen Herkunft ihres dynastischen Gründungsvaters Rjurik präsent gewesen sein werden, existierten noch längere Zeit enge politische und verwandtschaftliche Verbindungen zwischen der Kiewer Rus und den skandinavischen Königreichen. Wladimirs Sohn, Jaroslaw der Weise, heiratete 1019 die Tochter des schwedischen Königs Olof Skötkonung und gleich mehrere norwegische Könige hielten sich im 11. Jh. am Hofe von Jaroslaw in Nowgorod im Exil auf.
Mit der dramatisch gescheiterten Fahrt mittelschwedischer Wikinger bis zum Kaspischen Meer unter Führung eines Ingvars, die auf einer Vielzahl von schwedischen Runensteinen belegten ist, endeten Mitte des 11. Jh. auch die klassischen Wikingerzüge in den Osten.
Zuerst veröffentlicht in leicht abgeänderter Form in der 'Archäologie in Deutschland' 05/2017, S. 62–65.