Vor wenigen Wochen wurden die Ergebnisse von neuen Untersuchungen an dem berühmten Scharrbild des keulenschwingende Giganten von Cerne Abbas veröffentlicht, die ein überraschendes neues Licht auf die mögliche Entstehungszeit des Bildes werfen und zudem aufzeigen, dass Monumente in der Landschaft offensichtlich zu allen Zeiten die Menschen fasziniert haben.
Der Gigant von Cerne Abbas ist ein 55 Meter hohes Scharrbild eines nackten Mannes mit erhobener Keule und erigiertem Penis in einem Hügel bei Dorchester im englischen Dorset. Um die Herkunft des Giganten ranken sich seit Jahrhunderten unterschiedlichste Theorien. Lange Zeit wurde angenommen, dass das Scharrbild in den ersten ein oder zwei Jahrhunderten nach Christ Geburt in der Eisenzeit entstand und entweder der keltischen Kultur oder der späteren romano-britischen Bevölkerung zugeschrieben werden muss. Es wurde daher oft als Abbildung des keltischen Gottes Taranis oder des griechischen Heroen Herkules interpretiert. So kann das berühmte Uffington White Horse in Oxfordshire – das Scharrbild eines über 100 Meter langen Pferdes – an den Übergang zwischen Bronze- und Eisenzeit (etwa 1400–500 v. Chr.) datiert werden. Da die auffällige und weithin sichtbare Figur erst gegen Ende des 17. Jh. in den schriftlichen Aufzeichnungen erwähnt wird, wurde auch oftmals eine neuzeitliche Entstehung diskutiert, bspw. als Karikatur auf den Politiker Oliver Cromwell.
Im Sommer 2020 wurden erste Ergebnisse von Bodenproben veröffentlicht, bei denen Überreste einer Schneckenart in dem Kalkschotter des Scharrbildes entdeckt wurden, die jedoch erst im 13./14. Jahrhundert nach England gelangten. Diese Resultate schienen eine spätmittelalterliche oder sogar neuzeitliche Datierung des Cerne Abbas Giganten zu stützen.
Neueste Untersuchungen an dem Scharrbild mittels Optisch stimulierter Lumineszenzdatierung (OSL) haben diese Deutung nun wieder überworfen. Bei der Thermolumineszenzdatierung kann das Alter von Gesteinsproben (grob zusammengefasst) daran bestimmt werden, wie lange und intensiv die Proben der Sonneneinstrahlung ausgesetzt waren. Im Fall des Cerne Abbas Giganten ergaben die Untersuchungen, dass zumindest ein Teil des Bildes bereits im Frühmittelalter, etwa zwischen 700–1000 n. Chr. angelegt worden sein muss. Das gigantische Bild des nackten, keulenschwingenden Mannes ist damit wikingerzeitlich!
Neben den durchaus spektakulären neuen Ergebnissen zeigen die unterschiedlichen Datierungsansätze gut auf, dass solche eindrucksvollen Monumente nie als statisch zu betrachten sind. Zu allen Zeiten wird der Cerne Abbas Gigant dynamische Interaktionen provoziert haben – die Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit werden das Bild gesehen und es werden immer neue Mythen und Legenden um die Schöpfer des Bildes und seine Bedeutung entstanden sein. So überrascht es eigentlich kaum, dass Schneckenschalen auf eine Interaktion mit dem Bild im Spätmittelalter hinweisen. Auch damals werden Menschen den Hügel besucht und das Bild betrachtet und vielleicht sogar verändert haben. Darauf deutet bspw. eine heute nicht mehr sichtbare Fläche unter dem ausgestreckten linken Arm der Figur hin, die ursprünglich vielleicht einen Mantel oder ein Fell darstellte. Und auch der überdeutliche, 7 Meter lange erigierte Penis wurde nachträglich verlängert und überdeckte den Bauchnabel.
Wen das Bild jedoch darstellen soll, ist bis heute nicht klar. Auch bei einer Datierung in die Wikingerzeit wäre eine Interpretation bspw. als Herkules durchaus möglich. Der britische Mediävist Tom Morcom hat jedoch eine völlig neue, durchaus überraschende These präsentiert: Er deutet den Cerne Abbas Giganten als Abbildung des Heiligen Eadwold. Eadwold lebte im 9. Jahrhundert, war Angehöriger des Königshauses von East Anglia und Bruder des berühmten Königs Edmund. Er lebte jedoch als Einsiedler bei Cerne, nicht weit von den Hügeln entfernt, in denen heute das Scharrbild des Giganten zu sehen ist und gilt als Schutzheiliger der Region. Bei einem der vielen ihm zugeschriebenen Wunder erwuchs aus seinem Pilgerstab ein neuer Baum, was er als Zeichen Gottes deutete, sich an dieser Stelle niederzulassen. Die Keule des Cerne Abbas Gigant könnte demnach seinen Pilgerstab darstellen. Auch die Nacktheit des Giganten wäre kein Hindernis für diese Deutung. Der Verzicht auf Kleidung entsprach durchaus den Vorstellungen von Askese. Und die deutlich eingezeichneten Rippen des Giganten könnten demnach auf seine ausgemergelte und unterernährte Gestalt hindeuten.
Die neue Datierung in die Wikingerzeit wirft ein völlig neues Licht auf den Cerne Abbas Giganten. Fast noch spannender sind aber vielleicht die Mythen, Legenden und Erklärungsversuche mit denen Menschen jeder Zeit bis heute versuchten, dieses Monument zu verstehen und einzuordnen.