Der sogenannte ‚Blutadler‘ gilt gemeinhin als die typische und enorm brutale Hinrichtungsmethode der Wikinger und wird gerne in medialen Darstellungen der Wikinger als makabrer Ausweis ihrer Grausamkeit dargestellt. Dabei sollen die Rippen des lebenden Opfers von der Wirbelsäule abgetrennt und zur Seite gebogen worden sein, um so den Eindruck von Adlerschwingen zu erwecken.
Der Blutadler (altnord. blóðǫrn) wird an verschiedenen Stellen in der altnordischen Literatur als Hinrichtungsmethode für hochrangige Persönlichkeiten – zumeist Könige – erwähnt. An einigen wenigen Stellen in der Literatur wird der Blutadler tatsächlich detailliert beschrieben. So heißt es bspw. in Kapitel 30 der Haralds saga hárfagra, der Saga des norwegischen Königs Harald Schönhaar (Haraldr hárfagri, gest. 933) aus Snorri Sturlusons Werk Heimskringla:
„Da ging Jarl Einarr zu Halfdan. Er ritzte einen Adler auf seinen Rücken in der Weise, dass er sein Schwert vom Rückgrat aus in die Bauchhöle stieß und alle Rippen von oben herab bis zu den Lenden abtrennte und die Lunge herauszog. Dies war der Tod Halfdans.“
(Þá gekk Einarr jarl til Hálfdanar. Hann reist ǫrn á baki honum þeima hætti, at hann lagði sverði á hol við hrygginn ok reist rifinn ǫll ofan á lendar, dró þar út lungun. Var þat bani Hálfdanar.)
An einigen anderen Stellen heißt es in den Sagas dagegen nur lapidar, dass ein Adler auf den Rücken des Opfers geritzt wurde (Reginsmál, Strophe 27: „Nun wurde ein Blutadler mit blutigem Schwert geritzt in den Rücken von Sigmunds Mörder“; Nú er blóðugr ǫrn – bitrum hjǫrvi – bana Sigmundar – á baki ristinn).
Ob der Blutadler in der Wikingerzeit tatsächlich ausgeführt wurde – archäologische Belege dazu fehlen nicht unbedingt überraschend bislang – oder ob es sich dabei nur um einen Mythos oder eine literarische Übertreibung handelt, ist in der Forschung lange kontrovers diskutiert worden.
Es kann sicherlich nicht wissenschaftlich ausgeschlossen werden, dass in der Wikingerzeit tatsächlich vereinzelt Menschen mit dem in den Quellen beschriebenen Blutadler getötet wurden, bspw. dann, wenn ein Exempel statuiert werden sollte oder eine Hinrichtung besondere Aufmerksamkeit bekommen musste und daher extrem grausam sein sollte.
Möglich ist auch, dass der Blutadler nur symbolisch zu deuten ist. In der altnordischen Dichtkunst, der Skaldik, wurde das Töten eines Gegners oft damit umschrieben, dass man ‚dem Adler (oder auch dem Raben) Fraß gab‘. Der Ausdruck ‚den Blutadler auf den Rücken ritzen‘ könnte demnach also auch bedeuten, dass man einen Feind dem Tod weihte oder tötete. Aus dieser bildhaften Umschreibung könnte sich der literarische Mythos des Blutadlers als brutale Verstümmelung und Tötung des Gegners entwickelt haben.
Eine neue anatomische Studie, publiziert in der Fachzeitschrift Speculum, hat nun mittels Simulationen mit medizinischer Computersoftware nachweisen können, dass die Praxis des Blutadlers, wie er bspw. in der Heimskringla beschrieben ist, zumindest anatomisch möglich ist, wenn er auch zu einem schnellen Verbluten des Opfers führen würde.
Die spannenden Ergebnisse der umfangreich recherchierten Studie belegen sicherlich nicht die faktische Existenz des Blutadlers, aber sie belegen, dass er aus medizinischer Sicht ganz praktisch hätte existiert haben können. Damit rückt der Mythos des Blutadlers ein Stück näher in die archäologische Wirklichkeit.
Wer sich für (Menschen)Opfer in der Wikingerzeit interessiert, dem sei die Arbeit meines schwedischen Kollegen Klas Wikström af Edholm ans Herz gelegt, der darüber seine Doktorarbeit geschrieben hat. Die vollständige Dissertation (allerdings auf Schwedisch) lässt sich >hier< herunterladen. Zudem findet sich in dem von mir herausgegebenen Sammelband ‚Die Wikinger: Seeräuber und Krieger im Licht der Archäologie‘, erschienen im Theiss-Verlag 2021, ein Aufsatz von Klas Wikström af Edholm auf Deutsch über Menschenopfer in der Wikingerzeit.