Sommerzeit ist Reisezeit. Und wer an abenteuerliche Reisen denkt, denkt bei uns im Norden sicherlich zuerst an Wikinger. Aber wer ging in der Wikingerzeit tatsächlich auf Reisen? Auch wenn die Wikingerzeit für die meisten Menschen wohl hauptsächlich mit den charakteristischen Raubzügen verbunden ist, sind wohl nur die allerwenigsten Menschen im Nordeuropa der Wikingerzeit jemals weiter gereist als bis zum nächsten größeren Marktplatz. Die meisten Menschen blieben als Bauern, Fischer und Handwerker auf ihren Höfen und nur wenige Männer fuhren auf eine Plünder- oder Handelsfahrt, die sie auf teils Jahre andauernden Reisen bis weit in die arabische Welt führen konnte.
Aber es gab in der Wikingerzeit durchaus auch Menschen, die in einem fast schon modernen Sinne auf Reisen gingen. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich die Isländerin Gudrid (altnord. Guðríðr Þorbjarnardóttir), die als ‚die Weitgereiste‘ in die Geschichte einging. Den Überlieferungen nach siedelte sie als junges Mädchen nach Grönland über und stach von dort um das Jahr 1010 n. Chr. mit ihrem Ehemann Thorfinn Karlsefni in See, auf der Suche nach dem legendären neuentdeckten Land im Westen: Vínland, die Ostküste Kanadas um Neufundland. Während ihres Aufenthaltes in Vínland soll Gudrid den Quellen zufolge ihren Sohn Snorri geboren haben, der damit der erste in Nordeuropa geborene Europäer wäre. Über Grönland reiste sie zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Island zurück und lebte viele Jahre mit ihrer Familie auf ihrem Hof bei Glaumbær im Norden Islands. Aber obwohl sie in ihrem Leben sicherlich mehr Zeit an Bord eines Schiffes verbracht und zweimal den Nordatlantik überquert hatte, schien Gudrid auch im höheren Alter ihre Abenteuerlust nicht verloren zu haben. Als ihr Sohn Snorri heiratet, entscheidet sie sich – nun fromme Christin – eine Pilgerreise nach Rom zu unternehmen. Viel ist den Quellen nicht über diese Reise zu entnehmen, aber wir wissen, dass Gudrid wohlbehalten aus Rom nach Island zurückkehrte und die letzten Jahre ihres Lebens als Nonne in der von ihrem Sohn Snorri bei Glaumbær errichteten Kirche verbrachte.
Die Reisen von Gudrid, die sie über 12.000 Kilometer von Island aus bis nach Nordamerika und Italien führten, sind sicherlich einzigartig und vermutlich sind die Überlieferungen auch an einigen Stellen mit der Zeit immer mehr ausgeschmückt worden. Dass lange Pilgerreisen, vor allem von Frauen der höheren sozialen Schichten, gegen Ende der nun zunehmend christlichen Wikingerzeit aber durchaus üblich waren, zeigt auch die Inschrift eines Runensteines aus Uppland in Schweden: „Ingirun, die Tochter Hards, ließ diese Runen ritzen zur Erinnerung an sich selbst. Sie möchte fern nach Osten nach Jerusalem reisen“.