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Neue genetische Untersuchungen an den Individuen aus einem der sicherlich rätselhaftesten und strittig diskutiertesten Gräber der skandinavischen Wikingerzeit haben ein spektakuläres Ergebnis hervorgebracht, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.

1981 wurde im dänischen Gerdrup auf Seeland, etwa 10 Kilometer nördlich von Roskilde, das Doppelgrab von einer Frau und einem Mann entdeckt.  Das mehr als einem Meter tiefe Grab stammte vermutlich aus dem frühen 9. Jahrhundert und lag abseits der üblichen Gräberfelder in einer Düne an einem Fjord. Bereits bei der Ausgrabung erregte die Lage der beiden gut erhaltenen Skelette große Aufmerksamkeit.

Das Grab von Gerdrup während der Ausgrabung.
© Christensen, T. 1997, 'The armed woman and the hanged thrall', in: F. Birkebæk (ed.), The Ages Collected, Roskilde: Roskilde Museum. S. 35.

Der auf der linken (westlichen) Seite des Grabes bestattete Mann lag in merkwürdig verrenkter Haltung mit gespreizten Oberschenkeln. Osteologische Untersuchungen ergaben, dass er zum Todeszeitpunkt vermutlich 35–40 Jahre alt war und möglicherweise erhängt wurde, wie die verdrehten Halswirbel nahelegten. Die Lage seiner Beine könnte möglicherweise daraus resultieren, dass er an den Füßen gefesselt bestattet wurde.

Direkt auf den Leichnam der auf der rechten Seite des Grabes liegenden Frau waren drei große Steine gelegt worden. Neben ihren Beinen lag eine etwa 40 cm lange Speerspitze und zwischen den beiden Toten fanden sich Reste eines unverbrannten Schafschädels.

Umzeichnung des Grabes und Detailzeichnung der Halswirbel des Mannes.
© Kastholm, O. T. 2015, 'Spydkvinden og den myrdede. Gerdrupgraven 35 år efter', Romu. Årsskrift fra Roskilde Museum 2015, S. 68.

Die Interpretation dieses Grabes beschäftigt die Forschung bereits seit Jahrzehnten. Zumeist wird angenommen, dass es sich bei dem Mann um einen Sklaven oder Unfreien gehandelt hat, der rituell getötet wurde, um der Frau mit ins Jenseits zu folgen. Warum aber wurde die Frau mit Steinen bedeckt und welche Rolle spielt die Speerspitze in dem Grab? Möglicherweise handelte es sich bei ihr um eine sogenannte Völva, eine Frau, der magische Fähigkeiten nachgesagt wurden. In einigen altnordischen Sagas werden solche Völvas erwähnt, die die Zukunft vorhersehen und Zauber wirken können. Die schweren Steine sollten möglicherweise verhindern, dass die Frau von den Toten wiederauferstehen und den Lebenden Schaden zufügen konnte – eine in der Wikingerzeit durchaus verbreitete Furcht. Auch der Speer würde sich mit dieser Deutung der Frau als Völva erklären lassen. Der Begriff bedeutet „Stabträgerin“ und aus einer Reihe von wikingerzeitlichen Frauenbestattungen sind eiserne Stäbe bekannt, die möglicherweise als ‚Zauberstäbe‘ zu deuten sind, mit denen kultische Handlungen vollführt wurden. Vielleicht nutzte die Völva von Gerdrup stattdessen einen Speer?

Künstlerische Rekonstruktion der Bestattung von Gerdrup kurz vor dem Verschließen des Grabes.
© Zeichnung Mirosłav Kuźma, Bildrechte Leszek Gardeła, mit freundlicher Genehmigung von L. Gardeła

Die neuen genetischen Untersuchungen sind allerdings eine deutliche Überraschung und zwingen die Forschung nun, zumindest die Deutung des Mannes zu revidieren. Nach Ausweis der DNA handelt es sich bei den beiden Toten aus dem Grab von Gerdrup um Mutter und Sohn. Wurde möglicherweise beide wegen vorgeblich übernatürlicher Fähigkeiten oder Schadenszauber getötet und in einem Grab abseits der Siedlungen und Gräberfelder beerdigt? Eine Parallele dazu findet sich tatsächlich in der – allerdings gut 500 Jahre jüngeren – altnordischen Sagaliteratur. In der Eyrbyggja saga, die im 10./11. Jahrhundert auf Island spielt, allerdings erst Mitte des 13. Jahrhunderts verfasst wurde, wird eine Frau namens Katla wegen Schadenszauberei zu Tode gesteinigt und ihr Sohn Oddr gehängt. Trotz der großen zeitlichen und geographischen Diskrepanz zwischen dem Grab von Gerdrup und den (literarischen) Erzählungen der Eyrbyggja saga verleiten die deutlichen Parallelen die Forschung seit langem zu faszinierenden Spekulationen über Zauberinnen in der Wikingerzeit.

Eine jüngst im Fachjournal 'Nature' publizierte Studie belegt die enorme genetische Diversität der Wikinger. Im Kontrast zur populären Darstellung der Wikinger handelte es sich bei ihnen nicht durchgängig um blonde oder rothaarige Hünen, stattdessen werden viele Wikinger auch braune oder dunkle Haare gehabt haben. So zeigten die Gene von über 400 analysierten Individuen aus dem Aktionsradius der Wikinger eine enorme Varianz hinsichtlich Haar- und Augenfarbe sowie Hautton (Komplexion) und belegten deutliche Einflüsse aus anderen genetischen Gruppen, teilweise sogar aus Südosteuropa.

Die Ergebnisse kommen für die Archäologie nicht überraschend. Sie liefern aber naturwissenschaftliche, handfeste Belege für die in der Forschung schon seit langem als sicher geltenden Feststellung, dass es sich bei ‚den Wikingern‘ nicht um ein einheitliches Volk gehandelt hat. Stattdessen müssen wir das Phänomen ‚Wikinger‘ als einen kulturellen Raum begreifen, in dem verschiedene Populationen miteinander interagierten, sich austauschten und vermischten. Auch wird dieser Prozess sicherlich bereits lange vor der Wikingerzeit begonnen haben, aber durch die enorme Mobilität ab dem 8./9. Jahrhundert enorm an Geschwindigkeit und Ausmaß zugenommen haben.

Dieses Konzept der sogenannten ‚Ethnogenese‘ – dem Entstehen von Volksgruppen, die sich über bestimmte Aspekte (Sprache, Mythologie, Kultur) definieren – lässt sich für die Wikingerzeit beispielhaft an der Etablierung der ‚Kiewer Rus‘ in Osteuropa fassen: Im 9. und 10. Jh. etablierte sich vom östlichen Skandinavien ausgehend ein Handelsnetzwerk, das sich von Birka in Schweden über die russischen Flusssysteme von Wolga und Dnjepr bis zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer erstreckte. Entlang der großen Flüsse entstanden aus oftmals slawischen Siedlungen befestigte Handelsplätze, die als Umschlagplatz für Waren und zur Kontrolle der Handelswege fungierten und gegen Ende des 9. Jh. die Keimzelle für die Entstehung des Altrussischen Reiches, die ‚Kiewer Rus‘ waren. Über dieses Handelsnetzwerk, das durch die Territorien der steppennomadischen Reitervölker bis nach Konstantinopel – Hauptstadt des mächtigen Byzantinischen Reiches – und in die islamische Welt reichte, kamen die Skandinavier in Kontakt mit einer Vielzahl anderer Kulturen. Diese Kontakte reichten von gelegentlichen militärische Konfrontationen – besonders mit den Steppennomaden und immer wieder auch mit dem Byzantinischen Reich – über friedlichen Handel hin zur Etablierung einer gemeinsamen, hybriden Kultur der ‚Rus‘. Viele Wikinger ließen sich in den Handelsplätzen nieder und es entstand durch materiellen wie ideellen Austausch eine gemeinsame Identität, die sich über die Herkunft hinweg durch die Zugehörigkeit zu einer kollektiven, stark von einer Kriegerideologie geprägten Kultur definierte, die in der Forschung als ‚Rus‘ bezeichnet wird. Diese kollektive kulturelle Identität verschiedenster Gruppen drückte sich in der Adaption bestimmter Trachtelemente, Waffen und Kunststile aus, die aus skandinavischen, slawischen, steppennomadischen und auch byzantinischen wie islamischen Einflüssen zu einem eigenständigen kulturellen Charakter verschmolzen [Mehr dazu findet Ihr >hier<].

Auch aus Skandinavien selber sind archäologische Hinweise auf eine weitreichende individuelle Mobilität bekannt. Eine der beiden Frauen aus dem berühmten Schiffsgrab von Oseberg stammte aus der Region um das Schwarze Meer, möglicherweise aus dem heutigen Iran [Mehr zu dem Schiffsgrab von Oseberg findet Ihr >hier<]. Von der Ostseeinsel Gotland sind zudem drei Frauen mit künstlich deformierten Schädeln bekannt. Die Sitte der künstlichen Schädeldeformation (sogenannte Turmschädel) war in der Völkerwanderungszeit in ganz Europa verbreitet, in der späten Wikingerzeit wurde sie aber nur noch in Südosteuropa (vor allem in Bulgarien) sowie in Zentralasien ausgeübt. Bislang liegen noch keine genetischen Untersuchungen der drei Frauen von Gotland vor, aber es ist anzunehmen, dass sie tatsächlich aus Südosteuropa stammten, aus unbekannten Gründen nach Gotland gelangten und dort in die lokale Gesellschaft integriert wurden – so legen es zumindest ihre Gräber nahe, in denen sie als echte gotländische Wikingerinnen bestattet wurden [Mehr dazu findet Ihr >hier<. Die drei Frauen mit deformierten Schädeln von Gotland wurden von mir zudem in einem Fachaufsatz in der Zeitschrift 'Germania' diskutiert: Toplak, Matthias S., 2019, Körpermodifikationen als Embodiment von sozialer Identität und als sozio-kulturelle Ressource – Das Fallbeispiel der artifiziellen Schädeldeformationen in der skandinavischen Wikingerzeit; mit einem Beitrag zur Kraniometrie von V. Palmowski, in: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, Vol. 97, S. 93–129.].

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Nachdem bereits im letzten Herbst auf der norwegischen Insel Edøya, Møre og Romsdal, nahe der Kirche mittels Georadar durch das Norwegian Institute for Cultural Heritage Research (NIKU) die Reste eines wikingerzeitlichen Schiffes in einem Grabhügel sowie Siedlungsreste entdeckt wurden, haben die Auswertungen der Daten des Georadar nun noch ein weiteres Schiffsgrab zu Tage gebracht.

Nicht-invasive Untersuchungen mittels Georadar, bei denen der Untergrund mittels Radarwellen und Magnetik abgetastet wird, haben in den letzten Jahren beeindruckende Ergebnisse geliefert, nicht zuletzt mit der Entdeckung des Schiffsgrabes von Gjellestad.

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Oder: Auch auf Naturwissenschaften ist nicht immer Verlass

Heute mal etwas aus der Bronzezeit, das jedoch auch Auswirkungen auf die aktuelle Forschung zu den Wikingern hat.

2015 hatten Forscher des dänischen Nationalmuseums in Kopenhagen ausgehend von Strontiumisotopenanalysen an der, als 'Mädchen von Egtved' bekannten, bronzezeitlichen Mumie die spektakuläre Entdeckung verkündet, dass die junge Frau erst kurz vor ihrem Tod nach Dänemark gekommen sei, aber vermutlich im Bereich des Schwarzwaldes in Süddeutschland geboren und aufgewachsen sei.

Dieser Befund wurde als weiterer Beweis für die enorm hohe individuelle Mobilität in der Vorgeschichte gefeiert.

Nun wurden diese Ergebnisse einer erneuten Analyse unterzogen, die zu gänzlich anderen Aussagen gelangt und das in der Archäologie zunehmend bedeutsame Werkzeug der Strontiumisotopenanalysen in ein kritisches Licht stellt.

Strontium (Sr) wird durch Niederschlag aus dem Gestein ausgewaschen und gelangt so über Grundwasser, Pflanzen und tierische Nahrung in den Körper jedes Menschen, wo es sich in Knochen und Zähnen ablagert. Da die Isotopenzusammensetzung von Strontium regional leichte Abweichungen aufweist, ermöglicht eine Analyse dieser sogenannten Sr-Isotopensignatur Rückschlüsse darauf, wo ein Mensch aufgewachsen ein - so die Kurzzusammenfassung.

Allerdings ist diese Signatur lange nicht so eindeutig, wie es sich die Archäologie wünschen würde, sondern zeigt manchmal nur grobe Trends auf und erlaubt mitunter auch keine wirklich hilfreiche Zuordnung. So ist bspw. die geologische Sr-Signatur von Gotland und Südschweden nahezu identisch.

Im Falle des Mädchens von Egtved - um auf die neuen Ergebnisse zurückzukommen - zeigt sich noch ein weiterer problematischer Faktor, nämlich die Einwirkung neuzeitlicher Landwirtschaft. Durch die Verwendung von kalkhaltigen Dünger hatte sich die geologische Sr-Signatur in der Umgebung des Grabes von Egtved, die man als Referenz für die lokale Sr-Signatur im mittleren Jütland herangezogen hatte, so stark verändert, dass sie sich deutlich von der Signatur des Strontiums unterschied, das sich in Knochen und Zähnen des Mädchens von Egtved abgelagert hatte.

Neue Untersuchungen in landwirtschaftlich nicht genutzten Gegenden um Egtved herum ergaben im Kontrast dazu eine Sr-Signatur, die ziemlich genau den Werten des Mädchens von Egtved entspricht. Rein theoretisch kann ausgehend von den Sr-Analysen eine Herkunft des Mädchens aus dem Schwarzwald noch immer möglich sein - der Schwarzwald wie auch das mittlere Jütland um Egtved herum weisen eine nahezu identische Sr-Signatur auf - aber eine Herkunft des Mädchens aus Dänemark kann als sicher angenommen werden.

Dieser Befund zeigt deutlich auf, dass die Archäologie auch die neuen naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden nicht ohne jede Vorsicht als Wundermittel wahrnehmen sollte und noch viel Forschung im besten Sinne von 'trial and error' notwendig ist, um solche Faktoren berücksichtigen zu können.