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Bei Ausgrabungen des Universitätsmuseums Bergen sind bei Ose in Ørsta, Sunnmøre, Norwegen, die Spuren eines vendel- und wikingerzeitlichen heidnischen Kulthauses zum Vorschein gekommen.

Das Gebäude maß 14 Meter in der Länge und 7–8 Meter in der Breite und war mutmaßlich etwa 10 Meter hoch mit einer quadratischen Pfostensetzung in der Mitte, die auf einen Turm hindeuten kann. Zudem wurden Spuren von zwei großen Feuerstellen innerhalb des Gebäudes entdeckt.

Überblick über das Grabungsgelände mit den markierten Pfosten des mutmaßlichen Kulthauses.
© Øyvind Sandnes/NRK

Bislang wurden noch keine aussagekräftigen Funde entdeckt, die eine Deutung als Kulthaus stützen können, aber die Form der Halle von Ose mit der zentralen quadratischen Pfostensetzung ähnelt markant den Baustrukturen der (wenigen) bislang bekannten mutmaßlichen Kulthäuser wie bspw. in Uppåkra beim schwedischen Lund.

Lange Zeit dominierte sowohl in der Forschung wie auch in der populären Rezeption die Vorstellung,  dass religiöse Handlungen in der Wikingerzeit ausschließlich unter freiem Himmel stattfanden – ein Erbe der arg romantisierenden ‚Germanen‘-Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Neuere archäologische Funde – wie nun möglicherweise eben auch bei Ose – belegen jedoch, dass die Wikinger tatsächlich Kultbauten – ‚Tempel‘ – für Opferzeremonien errichteten.

Bei Lunda in Södermanland, zur Wikingerzeit Teil des Reiches der Svear, wurde ein großes Hallengebäude entdeckt, das vermutlich Sitz des lokalen Herrschers war. Daneben stand ein kleineres Gebäude, das offensichtlich ein Kulthaus – ein Tempel – gewesen war. In und vor dem Gebäude wurden bei Ausgrabungen drei kleine Figurinen gefunden, die nackte Männer mit erigierten Penissen darstellten. Zwei dieser Figuren waren aus vergoldeter Bronze und das dritte Exemplar aus purem Gold. Ob es sich bei den Figurinen um Götterdarstellungen – vielleicht alle drei von Freyr – oder um Weihe- bzw. Opfergaben handelt, bleibt unklar. Mit Sicherheit sind sie aber in Verbindung zu einem Fruchtbarkeitskult zu sehen. Etwa hundert Meter von dem kleinen Kultgebäude entfernt wurden auf einem Hügelkamm die Reste eines Opferplatzes mit verbrannten Knochen gefunden, bei dem es sich nach Meinung des Ausgräbers um den heiligen Hain handelt, auf den bereits der Ortsname Lunda („Hain“) anspielt.

Auch aus Uppåkra – als Vorgänger des südschwedischen Lund von den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bis zur Wikingerzeit ein weiterer politischer, administrativer und auch kultischer Zentralplatz – ist ein Kulthaus bekannt. Das Gebäude war annähernd 14 Meter lang, in Stabbauweise konstruiert und nach Aussage der stabilen dachtragenden Pfostenlöcher ungewöhnlich hoch. Während Aufbau und Form des Gebäudes nahezu identisch zu den späteren, frühchristlichen Stabkirchen sind, deuten die Funde aus dem Inneren auf eine kultische Funktion hin. Über 100 kleine, etwa daumennagelgroße Goldbleche mit stilisierten Menschenabbildungen (so genannte guldgubbar) wurden in den Pfostenlöchern gefunden und waren vermutlich ursprünglich an den Dachpfosten befestigt. Die genaue Bedeutung dieser guldgubbar, von denen aus ganz Skandinavien bislang über 3.000 Exemplare bekannt sind, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, vermutlich werden sie aber als Votivgaben in den Tempel gelangt sein. Außerhalb des Gebäudes fanden sich eine hohe Anzahl von Speer- und Lanzenspitzen, Schildbuckeln sowie einigen anderen Waffen. Die Deponierung dieser Waffen lässt die Ausgräber vermuten, dass eine große Anzahl Speere und Schilde – vielleicht als Dekoration an den Wänden – in dem Gebäude verwahrt worden waren. Damit entsteht ein Bild eines Kultgebäudes, das frappierend an die Beschreibungen von Walhalla in der späteren altnordischen Mythologie erinnert – der Halle, in welcher der oberste Gott Odin die im Kampf gefallenen Krieger um sich versammelt, die Pfosten im Lichte des Feuers aufgrund der daran befestigten Goldbleche golden schimmernd und die Wände und vielleicht auch die Decke geschmückt mit Schilden und Speeren.

Künstlerische Rekonstruktion des Kulthauses von Uppåkra.
© Loïc Lecareux/CC BY-NC-ND

Neben diesen beiden Beispielen für Gebäude, die speziell für die Ausübung des heidnischen Kultes errichtet und verwendet wurden und damit am ehesten dem Begriff ‚Tempel‘ entsprechen, lassen sich auch bei einer Reihe von Hallengebäuden in den Herrschaftssitzen archäologische Belege für rituelle Handlungen nachweisen, z. B. in Mære in Norwegen, Borg auf den Lofoten oder Hofstaðir auf Island. Die großen Hallen der Häuptlinge oder Kleinkönige waren eine Mischung aus politischem, sozialem und auch kultischem Zentrum. Da in der Wikingerzeit wahrscheinlich keine eigene Priesterklasse existierte, wurden die rituellen Handlungen bei Opferfeierlichkeiten durch die jeweils oberste Instanz – das Familienoberhaupt, den lokalen Häuptling oder den König – ausgeführt, denen auch die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Gefolgsleute oblag. Unter bestimmten Umständen, über die wir heute nur noch spekulieren können, fanden diese Kulthandlungen mitunter auch in der großen Halle statt, die sonst der Herrschaftsrepräsentation diente.

Eine jüngst im Fachjournal 'Nature' publizierte Studie belegt die enorme genetische Diversität der Wikinger. Im Kontrast zur populären Darstellung der Wikinger handelte es sich bei ihnen nicht durchgängig um blonde oder rothaarige Hünen, stattdessen werden viele Wikinger auch braune oder dunkle Haare gehabt haben. So zeigten die Gene von über 400 analysierten Individuen aus dem Aktionsradius der Wikinger eine enorme Varianz hinsichtlich Haar- und Augenfarbe sowie Hautton (Komplexion) und belegten deutliche Einflüsse aus anderen genetischen Gruppen, teilweise sogar aus Südosteuropa.

Die Ergebnisse kommen für die Archäologie nicht überraschend. Sie liefern aber naturwissenschaftliche, handfeste Belege für die in der Forschung schon seit langem als sicher geltenden Feststellung, dass es sich bei ‚den Wikingern‘ nicht um ein einheitliches Volk gehandelt hat. Stattdessen müssen wir das Phänomen ‚Wikinger‘ als einen kulturellen Raum begreifen, in dem verschiedene Populationen miteinander interagierten, sich austauschten und vermischten. Auch wird dieser Prozess sicherlich bereits lange vor der Wikingerzeit begonnen haben, aber durch die enorme Mobilität ab dem 8./9. Jahrhundert enorm an Geschwindigkeit und Ausmaß zugenommen haben.

Dieses Konzept der sogenannten ‚Ethnogenese‘ – dem Entstehen von Volksgruppen, die sich über bestimmte Aspekte (Sprache, Mythologie, Kultur) definieren – lässt sich für die Wikingerzeit beispielhaft an der Etablierung der ‚Kiewer Rus‘ in Osteuropa fassen: Im 9. und 10. Jh. etablierte sich vom östlichen Skandinavien ausgehend ein Handelsnetzwerk, das sich von Birka in Schweden über die russischen Flusssysteme von Wolga und Dnjepr bis zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer erstreckte. Entlang der großen Flüsse entstanden aus oftmals slawischen Siedlungen befestigte Handelsplätze, die als Umschlagplatz für Waren und zur Kontrolle der Handelswege fungierten und gegen Ende des 9. Jh. die Keimzelle für die Entstehung des Altrussischen Reiches, die ‚Kiewer Rus‘ waren. Über dieses Handelsnetzwerk, das durch die Territorien der steppennomadischen Reitervölker bis nach Konstantinopel – Hauptstadt des mächtigen Byzantinischen Reiches – und in die islamische Welt reichte, kamen die Skandinavier in Kontakt mit einer Vielzahl anderer Kulturen. Diese Kontakte reichten von gelegentlichen militärische Konfrontationen – besonders mit den Steppennomaden und immer wieder auch mit dem Byzantinischen Reich – über friedlichen Handel hin zur Etablierung einer gemeinsamen, hybriden Kultur der ‚Rus‘. Viele Wikinger ließen sich in den Handelsplätzen nieder und es entstand durch materiellen wie ideellen Austausch eine gemeinsame Identität, die sich über die Herkunft hinweg durch die Zugehörigkeit zu einer kollektiven, stark von einer Kriegerideologie geprägten Kultur definierte, die in der Forschung als ‚Rus‘ bezeichnet wird. Diese kollektive kulturelle Identität verschiedenster Gruppen drückte sich in der Adaption bestimmter Trachtelemente, Waffen und Kunststile aus, die aus skandinavischen, slawischen, steppennomadischen und auch byzantinischen wie islamischen Einflüssen zu einem eigenständigen kulturellen Charakter verschmolzen [Mehr dazu findet Ihr >hier<].

Auch aus Skandinavien selber sind archäologische Hinweise auf eine weitreichende individuelle Mobilität bekannt. Eine der beiden Frauen aus dem berühmten Schiffsgrab von Oseberg stammte aus der Region um das Schwarze Meer, möglicherweise aus dem heutigen Iran [Mehr zu dem Schiffsgrab von Oseberg findet Ihr >hier<]. Von der Ostseeinsel Gotland sind zudem drei Frauen mit künstlich deformierten Schädeln bekannt. Die Sitte der künstlichen Schädeldeformation (sogenannte Turmschädel) war in der Völkerwanderungszeit in ganz Europa verbreitet, in der späten Wikingerzeit wurde sie aber nur noch in Südosteuropa (vor allem in Bulgarien) sowie in Zentralasien ausgeübt. Bislang liegen noch keine genetischen Untersuchungen der drei Frauen von Gotland vor, aber es ist anzunehmen, dass sie tatsächlich aus Südosteuropa stammten, aus unbekannten Gründen nach Gotland gelangten und dort in die lokale Gesellschaft integriert wurden – so legen es zumindest ihre Gräber nahe, in denen sie als echte gotländische Wikingerinnen bestattet wurden [Mehr dazu findet Ihr >hier<. Die drei Frauen mit deformierten Schädeln von Gotland wurden von mir zudem in einem Fachaufsatz in der Zeitschrift 'Germania' diskutiert: Toplak, Matthias S., 2019, Körpermodifikationen als Embodiment von sozialer Identität und als sozio-kulturelle Ressource – Das Fallbeispiel der artifiziellen Schädeldeformationen in der skandinavischen Wikingerzeit; mit einem Beitrag zur Kraniometrie von V. Palmowski, in: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, Vol. 97, S. 93–129.].

In der aktuellen National Geographic ist ein spannender Artikel zu einer neuen Studie zu Bestattungen in Bauchlage im Hoch- und Spätmittelalter im deutschsprachigen Raum erschienen, für den ich um ein paar Kommentare gebeten wurde.

Eine Reihe von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Infektionserkrankungen wie bspw. Tuberkulose oder Lepra sind bereits seit längerem für die Wikingerzeit belegt, fassbar anhand von deutlich sichtbaren Spuren an Skeletten.

Eine neue genetische Studie konnte nun auch Pockeninfektionen bei insgesamt elf Individuen aus der skandinavischen Wikingerzeit nachweisen.

Pocken (oder auch Blattern) gehörten bis 1980 zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten der Menschheit mit einer Lethalität von geschätzten 30 %. Pockeninfektionen ließen sich bereis an altägyptischen Mumien und im römischen Reich nachweisen. Die neue Studie belegt nun, dass die Pocken - wenig überraschend - ab dem 7. Jh. auch bis nach Skandinavien vordrangen.

Eine jüngst im Journal of Ethnopharmacology veröffentlichte Studie postuliert auf Grundlage pharmakologischer Untersuchungen, dass der Kampfrausch der berühmten altnordischen Berserker nicht - wie bislang oft vermutet - durch Fliegenpilze verursacht wurde, sondern stattdessen durch ein bestimmtes Nachtschattengewächs, das Schwarze Bilsenkraut.

Berserker sind in der altnordischen Literatur furchteninflößende Krieger, die in einem Kampfrausch weder Schmerzen noch Angst fühlen. In der Skaldik des 9. und 10. Jh. sind diese Berserker anscheinend eine Art Elitekrieger im Gefolge des Königs, in der späteren altnordischen Sagaliteratur werden dagegen notorische Gewalttäter und Unruhestifter als Berserker bezeichnet.

Was tatsächlich hinter den legendären und mythenumsponnenen Berserkern der altnordischen Überlieferungen steckt, ist jedoch noch immer unklar: Waren es tatsächlich besondere Elitekrieger, die sich durch die Einnahme bestimmter Substanzen oder tranceartige Tänze in einen Kampfrausch versetzen konnten, bezieht sich der Begriff auf die Erinnerungen an germanische Krieger, die als Gladiatoren bei Tierhatzen in römischen Arenen gegen Bären kämpfen mussten oder handelt es sich schlicht um eine literarische Erfindung?

Die neue Studie belegt jedoch zumindest, dass in Nordeuropa zur Wikingerzeit mit dem Schwarzen Bilsenkraut eine Pflanze vorkam, die - in der richtigen Dosis verzehrt - zu einer Vergiftung führte, deren Symptome überraschend gut zu den Eigenschaften der legendären Berserker passen. Zudem ist Schwarzes Bilsenkraut in der Archäologie der Wikingerzeit absolut nicht unbekannt. In einem Grab im dänischen Fyrkat war eine offensichtlich sozial hochstehende Frau mit einer Reihe von ungewöhnlichen Grabbeigaben bestattet worden, darunter mehrere Amulette, ein eiserner Stab, der als Zauberstab gedeutet werden könnte sowie ein kleiner Beutel mit Samen von Schwarzem Bilsenkraut. Es ist immer viel Spekulation mit im Spiel, wenn aus Grabbeigaben die soziale Stellung oder Funktion des Bestatteten zu Lebzeiten herausgelesen werden soll, aber die merkwürdigen Grabbeigaben der Dame aus Fyrkat lassen es durchaus plausibel erscheinen, dass die Frau zu Lebzeiten ein 'ritual specialist' war, eine Priesterin, Wahrsagerin oder Hexe.

Unter 'Artikel' findet sich nun die Rubrik 'Das Genderverständnis in der Wikingerzeit – Schildmaiden, selbstbestimmte Frauen und rechtlose Sklavinnen?', in der ich Texte und Blogeinträge zu diesen spannenden und in der Forschung wie auch in der Öffentlichkeit heiß diskutierten Themenfeldern sammel.

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Derzeit kursiert wieder einmal ein Bericht über angebliche Belege für kämpfende Frauen in der Wikingerzeit im Internet, dieses Mal beim Focus. In dem Bericht nebst Interview mit der norwegischen Archäologin Marianne Moen von der Universität Oslo, die hauptsächlich zu Gender-Fragen forscht, wird ein waffenführendes Grab aus dem norwegischen Åsnes (Nordre Kjølen) präsentiert. Das verstorbene Individuum in diesem Grab wurde mit einer vollständigen Waffengarnitur - Schwert, Axt, Speer, Schild und Pfeilen - sowie einem aufgezäumten Pferd beigesetzt.

Künstlerische Rekonstruktion des Frauengrabes von Nordre Kjølen.
© Zeichnung Mirosłav Kuźma, Bildrechte Leszek Gardeła, mit freundlicher Genehmigung von L. Gardeła; abgedruckt in: Staecker, Jörn & Toplak, Matthias S. (Hrsg.), 2019, Die Wikinger. Entdecker und Eroberer, Berlin: Ullstein Buchverlage/Propyläen Verlag, Abb. 25.

Bereits die anthropologischen Untersuchungen des Skeletts im Anschluss an die Ausgrabung zu Beginn des 20. Jh. hatten vermuten lassen, dass es sich um eine Frau handelte. Die Tote war recht jung verstorben und mit einer Körpergröße von etwa 150 cm und einem Gewicht von nicht mehr als 40 kg auch für damalige Zeiten sehr grazil (zum Vergleich, die Durchschnittsgröße in der skandinavischen Wikingerzeit lag bei etwa 172-176 cm für Männer und 160-165 cm bei Frauen).

Mit Sicherheit ist die Bestattung beim aktuellen Forschungsstand extrem außergewöhnlich. Gemeinsam mit dem berühmten Kammergrab Bj 581 von Birka handelt es sich um eines der beiden derzeit bekannten Gräber aus der skandinavischen Wikingerzeit, in denen Frauen mit einer vollen Waffengarnitur beigesetzt wurden. Anders als bei Bj 581 wurden im Grab von Nordre Kjølen jedoch keine Trachtelemente gefunden, die darauf hinweisen, ob die Verstorbene in Frauenkleidung oder wie bei Bj 581 in Männertracht beigesetzt wurde.

In dem aktuellen Focus-Artikel wird nun jedoch ausgehend von einer Gesichtsverletzung der Toten behauptet, dass dieses Grab als Beleg dafür gesehen werden könne, dass auch Frauen in der Wikingerzeit Waffen geführt und mit den Männern gekämpft hätten. Interessanterweise stammt diese Behauptung jedoch nicht von Marianne Moen, die nur aussagt, dass die Frau von Nordre Kjølen einen 'Kriegerstatus' und die Befugnis und Fähigkeiten zum Führen gehabt habe. Die mögliche symbolische Bedeutung von Waffen in Frauengräbern haben mein guter Freund und Kollege Leszek Gardeła und ich im Kontext des Grabes der 'Birka-Kriegerin' intensiv in dem Buch 'Die Wikinger. Entdecker und Eroberer' in Kapitel 3.1 ("Walküren und Schildmaiden. Weibliche Krieger?", S. 137–151) diskutiert.

Wie auch bei dem Grab von Birka ist nicht auszuschließen, dass diese Waffen durchaus auf eine konkrete soziale (oder sogar militärische?) Rolle der Frau zu Lebzeiten hindeuten, als wichtige sozio-politische (militärische?) Führungsperson der lokalen Gemeinschaft. Über die Frage, wie sie zu dieser Stellung gekommen ist, lässt sich nur spekulieren. Die oftmals angeführte These, dass sie als einziger Nachkomme des lokalen Häuptlings die Rolle eines männlichen Erbens übernehmen musste, kann durch ethnologische und historische Parallelbefunde unterstützt werden. Allerdings stellt sich dann auch zwangsläufig die Folgefrage, warum aus der skandinavischen Wikingerzeit bislang nur zwei solcher Fälle bekannt sind.

Zudem fällt bei dem Grab von Nordre Kjølen auf, dass das Schwert mit der Spitze zum Kopf neben der Toten deponiert wurde und nicht - wie sonst üblich - mit dem Griff. Gemeinsam mit der Tatsache, dass das Schwert auf der linken Seite der Toten liegt - ebenso wie auch bei dem Grab von Birka - deutet das der überzeugenden Theorie von Leszek Gardeła nach darauf hin, dass die Waffen nicht als Kriegsausrüstung der Frau(en) zu interpretieren sind.

Eine tatsächliche Beteiligung am Kampf - wie der Focus-Artikel nun suggeriert - kann in meinen Augen jedoch gänzlich verworfen werden. Die angeführte verheilte Gesichtsverletzung der Toten von Nordre Kjølen, die als Schwertwunde interpretiert wird, ist eindeutig eine Impressionsfraktur von einem stumpfen Gegenstand und keinesfalls ein gerader Schnitt/Hieb von einer Schwertklinge. Dies lässt sich unschwer aus der beim Focus abgebildeten Gesichtsrekonstruktion wie auch an dem im Kulturhistorische Museum (KHM) in Oslo ausgestellten Schädel der Toten erkennen.

Zudem ist eine effektive Beteiligung der Frau von Nordre Kjølen am Kampf Mann gegen Mann meiner Meinung nach aufgrund ihrer körperlichen Konstitution schlicht nicht möglich. Mit 150 cm Körpergröße und 40 kg Gewicht war sie männlichen Gegner körperlich drastisch unterlegen und es ist fraglich, ob sie ein schweres Schwert oder die Axt überhaupt hätte führen können. Ich habe als seit Jahrzehnten aktiver Kampfsportler in verschiedensten Disziplinen - von Muay Thai über historisches Fechten (HEMA) bis hin zu Reenactment-Fechten im Neustadt-Glewe-/Wolin-Stil - die Erfahrung machen müssen, dass körperliche Überlegenheit ein nicht zu vernachlässigender relevanter Aspekt ist. In vielen Kampfsportarten bzw. beim Fechten geht es in der sportlichen Auseinandersetzung viel um Technik, Geschwindigkeit und Erfahrung, so dass eine zierliche Frau wie die Tote aus Nordre Kjølen bei entsprechendem Können durchaus auch größere und kräftigere Männer besiegen kann. Beim ernsthaften Kampf mit Schwert und Schild - sei es im Schildwall oder im Zweikampf - halte ich auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrung die körperlichen Unterschiede jedoch für zu gravierend. Eine dermaßen zarte, kleine Frau würde schlicht überrannt werden ohne eine ersthafte Chance zur Gegenwehr.

Das Grab von Nordre Kjølen ist sicherlich ein neues und wichtiges Puzzle-Teil in dem großen Bild der Wikingerzeit, das uns zwingt, die Rolle der Frau und das Genderverständnis der Wikinger neu zu überdenken. Aber es ist kein Beleg für eine aktive Rolle von Frauen als Kriegerinnen im Kampf!

Mehr Informationen zu Walküren, Schildmaiden und Frauen mit Waffen gibt es in dem bereits erwähnten Kapitel von Leszek und mir: Leszek Gardeła, Matthias Toplak, Walküren und Schildmaiden. Weibliche Krieger?, in: Jörn Staecker, Matthias Toplak (Hrsg), 2019, Die Wikinger. Entdecker und Eroberer, Berlin: Ullstein Buchverlage/Propyläen Verlag, S. 137–151.

Zudem möchte ich Leszeks Forschung zu diesem Thema empfehlen: In seinem Projekt 'Amazons of the North? Armed Females in Viking Archaeology and Medieval Literature' präsentiert er in einer inzwischen ganzen Reihe von Aufsätzen sowie in einem bald erscheinenden Buch die neueste Forschung und seine Perspektive zu diesem Thema. Leszeks Publikationen lassen sich online bei Academia.edu herunterladen.

Im mittelnorwegischen Trøndelag wurden im Oktober zwei aufsehenerregende Bootsgräber der Wikingerzeit entdeckt, wie das NTNU University Museum in Trondheim nun bekannt gegeben hat. Bei der älteren Bestattung aus dem 8. Jh. - also dem Übergang zwischen der Vendel- und der Wikingerzeit - handelt es sich um das Grab eines Mannes, der mit seinen Waffen in einem 9-10 Meter langen Boot unter einem Grabhügel bestattet wurde. Über hundert Jahre später wurde der Grabhügel in der zweiten Hälfte des 9. Jh. wieder geöffnet und eine zweite Bestattung in einem Boot sorgfältig in dem ausgegrabenen älteren Bootsgrab niedergelegt. Diesmal handelte es sich um eine Frau, die mit reinen Schmuckbeigaben aus vergoldeter Bronze in einem etwas kleineren Boot beigesetzt wurde.

Nachbestattungen in älteren Grabhügeln oder sogar konkret in den älteren Gräbern sind nichts Ungewöhnliches in der Wikingerzeit und können sowohl im Abstand von wenigen Jahren wie auch im Abstand von mehreren Jahrhunderten vorkommen. Die Niederlegung eines Grabbootes in ein älteres Bootsgrab ist jedoch ein bislang kaum bekanntes Phänomen. Die Bedeutung dieser Handlung ist unklar. Vermutlich sollte durch die zweite Bestattung in dem Grab die Verwandtschaft der Frau mit dem ursprünglich dort bestatteten Mann hervorgehoben werden, um durch diese Familientradition einen besonderen Machtanspruch zu verdeutlichen. Möglich wäre aber auch, dass es zwischen den beiden Bestattungen zu einem sozio-politischen Umsturz kam und die neuen Machthaber durch diese Bestattung die früheren Herrscher symbolisch unter sich begraben wollten. Auf eine Klärung dieser Frage lassen aDNA- und Strontiumisotopenanalysen an den allerdings nur sehr schlecht erhaltenen Knochen hoffen.

Ein deutscher Artikel zu dem Fund ist in den 'Stuttgarter Nachrichten' erschienen, garniert mit Ausschnitten aus einem längeren Interview mit mir.

Heute einmal eine Nachricht aus dem eigenen Hause: Meine Kollegen im Projekt B06 des SFB 1070 – Dr. Laura Maravall Buckwalter und Prof. Dr. Jörg Baten – haben in einem nun veröffentlichten Aufsatz anhand der Auswertung von Zähnen wikingerzeitlicher Skelette nachgewiesen, dass Mädchen und Frauen in der skandinavischen Wikingerzeit eine ebenso gute Ernährung und hygienische Versorgung erhielten, wie Jungen und Männer. Das deutliche Fehlen von sogenannten linearen Schmelzhypoplasien – sichtbare Strukturschäden der Zähne aufgrund von Mangelernährung und fehlender Hygiene – kann als finaler naturwissenschaftlich-medizinischer Beleg für die in der Archäologie schon lange postulierte These einer hohen sozialen Stellung von Mädchen und Frauen in der Gesellschaft der skandinavischen Wikingerzeit gewertet werden. Die Pressemeldung der Universität Tübingen gibt es hier.