Körpermodifikationen als Initiationsritus oder zur Präsentation einer spezifischen Identität sind aus vielen Kulturen bekannt. Neuere archäologische Ergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass auch bei den Wikingern vereinzelt Körpermodifikationen üblich waren – allerdings waren diese Modifikation gänzlich anderer Form als das klassische Bild der Wikinger erwarten ließ.
Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, durch spezifische Aspekte ihres Aussehens eine bestimmte Identität nach außen zu präsentieren, zumeist durch eine besondere Tracht – Kleidung oder Schmuckattribute –, die eine Selbstzuweisung zu einem bestimmten Kollektiv und Abgrenzung von allen anderen Gruppen ermöglichte. Oftmals entwickelten sich diese Zeichen einer bestimmten Identität zu modischen Statussymbolen als Selbstzuschreibung zu einer als überlegen empfundenen Gruppe und – sukzessive losgelöst von ihrer ursprünglichen Bedeutung – zu einem rein ästhetischen Schönheitsideal. Extreme Fälle stellen permanente Körpermodifikationen wie Tätowierungen oder Skarifizierungen dar. Anders als Schmuck oder Trachtelemente lassen sich diese Körpermodifikationen nur unter bestimmten Umständen im archäologischen Befund fassen; entweder bei ausgezeichneter Erhaltung von organischer Substanz – wie z. B. bei den Tätowierungen skythischer Mumien – oder wenn Knochen- oder Zahnstruktur verändert wurde. Auch in der skandinavischen Wikingerzeit lassen sich neueren Befunden zufolge in einigen Fällen Körpermodifikationen nachweisen.
Tätowierungen bei den Wikingern?
Das populäre, medial vermittelte Bild – wie z. B. in der Serie VIKINGS – zeigt zumeist einen wilden Wikingerkrieger mit langen Haaren, Bart und oftmals auch mit kunstvollen Tätowierungen, die wie selbstverständlich als elementare Aspekt eines wikingischen Schönheitsideales wahrgenommen. Aufgrund der Neigung der Wikinger, selbst Alltagsgegenstände wie Löffel oder Essschalen mit elaborierten Verzierungen zu schmücken, und der enormen Bedeutung, welche die verschiedenen Kunststile der skandinavischen Wikingerzeit offensichtlich für die damalige Gesellschaft gehabt haben, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass die wilden Nordmänner auch ihren Körper mit aufwändigen Mustern tätowierten. Konkrete Belege für diese Annahme sind jedoch kaum zu finden.
Eismumien mit bemalter Haut
Tätowierungen lassen sich in Europa spätestens seit dem Neolithikum vor über 5000 Jahren nachweisen, berühmtester und – zusammen mit zwei neuen Funden aus Oberägypten – ältester Beleg ist die Gletschermumie ‚Ötzi‘ vom Hauslabjoch, Südtirol. In der klassischen Antike waren Tätowierungen als Markierungen von Sklaven oder Kriminellen bei Römern und Griechen üblich, freiwillige Tätowierungen als ästhetisch empfundener Körperschmuck – wie einige ausgezeichnet erhaltene ‚Eismumien‘ aus Kammergräbern des 5. Jh. v. Chr. im Altai-Gebirge für die skythische Kultur belegen – wurden von Römern und Griechen als barbarisch und unzivilisiert empfunden.
Bemalte Krieger, hoch wie Palmbäume
Mögliche Hinweise für Tätowierungen in Skandinavien zwischen dem 8.–11. Jh. sind dagegen rar. Der vielversprechendste und häufig angeführte Beleg stammt von dem arabischen Diplomaten Aḥmad ibn Faḍlān aus dem ersten Viertel des 10. Jh., der als Gesandter zu den Wolgabulgaren reiste und dort ostskandinavischen Wikingern, den Rus, begegnete. Er beschreibt – deutlich beeindruckt – die perfekten Körper der Männer ‚hoch wie Palmbäume‘, die ‚von den Spitzen der Zehen bis zum Nacken mit dunkelgrünen Mustern bedeckt sind‘. Allerdings lässt sich diese Passage mehrdeutig übersetzen, aus dem arabischen Original geht nicht eindeutig hervor, ob diese Muster tätowiert oder nur aufgemalt sind, da dasselbe arabische Wort auch für Wandbemalungen verwendet wird. Ibn Faḍlān wertete diese Körperverzierung jedoch als ‚un-islamisch‘, was wiederum zu echten Tätowierungen passen würde, da diese bei den koptischen Christen heute noch als Abgrenzung zum Islam üblich sind. Zwei weitere historische Quellen belegen zumindest, dass Tätowierungen bei einigen Völkern in Europa im Frühmittelalter bekannt waren. Papst Hadrian verbot im 8. Jh. in einer Bulle den heidnischen Brauch der Tätowierung in Britannien. Vermutlich bezog er sich – ebenso wie Isidor von Sevilla ein Jahrhundert zuvor – auf die keltischen Pikten, deren Stammesname bereits auf Tätowierungen oder Bemalungen des Körpers hinweist.
Eine umstrittene Tätowiernadel der Wikinger?
Archäologisch lässt sich hingegen nur wenig anführen. Ein kammartiges Eisenobjekt aus einem wikingerzeitlichen Grab auf dem Gräberfeld von Vendel in Schweden wird unter Vorbehalt als Tätowiernadel interpretiert, eine Deutung, die unter modernen Tätowierern umstritten ist. Auf der Rückseite einer kleinen Figurine aus Rällinge, Schweden, die als Darstellung des altnordischen Gottes Freyr gedeutet wird, sind Muster eingeritzt, die als Tätowierungen gesehen werden, ebenso gut aber auch nur einfache Verzierungen sein könnten. Erhaltene Tätowierungen, wie bei einigen Mumien aus Grönland aus dem 15. Jh., sind aus der skandinavischen Wikingerzeit nicht bekannt, was aber alleine schon der schlechten Erhaltung von organischem Gewebe im nordischen Klima geschuldet sein wird.

© Arrhenius B. 2005, Three Riders Coming to Vendel, in: K. A. Bergsvik & A. Engevik jr. (eds.), Fra funn til samfunn. Jernalderstudier tilegnet Bergljot Solberg på 70-årsdagen, Bergen: Universitetet i Bergen, S. 314.

© Christer Åhlin/SHM.
Gefeiltes Grinsen
Eine ebenso permanente aber weitaus ungewöhnlichere Form der Körpermodifikation der skandinavischen Wikingerzeit ist erst seit einigen Jahren bekannt. Bei etwa hundert Männern – hauptsächlich von der schwedischen Insel Gotland – waren horizontale Riefen in die Schneidezähne gefeilt. Zahnfeilungen sind in vielen Kulturkreisen – bspw. in Afrika oder Südostasien – eine übliche Form von Initiationsriten, aus der skandinavischen Wikingerzeit wie generell aus Europa waren jedoch lange keine vergleichbaren Fälle bekannt. Für dieses ungewöhnliche Phänomen wurden bisher verschiedene Deutungsansätze vorgebracht; als Markierung von Sklaven, für ein besonders grimmiges, kriegerisches Aussehen oder als Erkennungsmerkmal früher Handelsgilden. Sicher erscheint zumindest, dass die Feilungen, zumeist auf den Schneidezähnen des Oberkiefers, unter Oberlippe und Bart nur sehr eingeschränkt sichtbar waren, selbst wenn man sie mit einer dunklen Paste bspw. aus Ruß einfärbte. Die Zahnfeilungen mussten demnach ganz bewusst durch ihren Träger gezeigt werden, was es ermöglichte, sie als Initiationsritus und konspiratives Identifikationsmerkmal eines geschlossenen Verbundes zu nutzen und gegen eine Funktion als modischer oder ästhetischer Körperschmuck spricht. Da die absolute Mehrheit der Zahnfeilungen bisher aus Männergräbern bekannt sind, die keinerlei Hinweise auf eine Kriegeridentität des Toten aufweisen, ist beim aktuellen Forschungsstand anzunehmen, dass die Feilungen Schiffsgemeinschaften oder Handelsverbände, ähnlich späterer Gilden, kennzeichneten.

© Gabriel Hildebrand/SHM.
Hunnische Körpermodifikation in der Wikingerzeit?
Die vermutlich extremste Form von Körpermodifikationen in der Wikingerzeit ist über ein Jahrhundert weitestgehend ignoriert worden. Auf drei weit voneinander entfernt liegenden Gräberfeldern auf der schwedischen Insel Gotland waren drei erwachsene Frauen mit typisch gotländischer Tracht bestattet worden, deren Köpfe zu sog. ‚Turmschädeln‘ deformiert worden waren. Dabei wurden zumeist durch eine zirkulär um den Kopf umlaufende Bandagierung die elastischen Schädelknochen von kleinen Kindern in den ersten 1–2 Lebensjahren so deformiert, dass der Kopf eine langgezogene, eiförmige Gestalt erhielt; ein sogenannter Turmschädel. Diese Form der Körpermodifikation breitete sich vom neolithischen Vorderasien in den Kaukasus und nach Zentralasien aus, wo sie um Christi Geburt zu einem Charakteristikum der frühen hunnischen Kultur der Kengol-Gruppe wurde. In Europa traten Schädeldeformationen bereits ab dem 2./3. Jh. auf Gräberfeldern in Ungarn und Rumänien auf, beeinflusst von sarmatisch-alanischen Stämmen, welche die Sitte der Schädeldeformationen vermutlich von den Hunnen übernommen hatten. Mit dem Vordringen der Hunnen nach Europa Ende des 4. Jh. als Auftakt der Völkerwanderung verbreiteten sich Turmschädel – vermutlich assoziiert mit der Vormachtstellung der Hunnen und als modisches Statussymbol – auch unter den germanischen Stämmen in Mitteleuropa. So wurden im 5. und frühen 6. Jh. auf einer Reihe von Gräberfeldern Frauen mit deformierten Schädeln bestattet. Mit dem Niedergang des Hunnenreiches im Laufe des 6. Jh. endete in Mitteleuropa auch sukzessive die Sitte der Schädeldeformierungen.

© Johnny Karlsson/SHM.
Trotz der Lage der Gräber zwischen anderen wikingerzeitlichen Bestattungen wurden die drei Frauen von Gotland aufgrund ihrer deformierten Schädel – der Forschungsmeinung, dass die Sitte der Turmschädel in Europa mit dem Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter endete – in das 6. Jh. datiert und als merowingerzeitliche Langobardinnen interpretiert. Eine genauere Untersuchung dieser Gräber und der Trachtbeigaben – bei zwei Bestattungen bestehend aus reichen Fibel- und Schmuckgarnituren – und dem Kontext der Gräberfelder zeigt jedoch eindeutig, dass alle drei Gräber in der zweiten Hälfte des 11. Jh. angelegt worden sein müssen.
Eine langlebige Tradition
Zudem lassen sich mehrere Fälle von artifiziell deformierten Schädel aus dem Zeitraum um das 10./11. Jh. aus Ost- und Südosteuropa nachweisen; ein deformierter Frauenschädel wurde auf einem Gräberfeld des bedeutsamen Handelsplatzes von Wolin im heutigen Polen gefunden und kann in die Mitte des 11. Jh. datiert werden, ebenso wie ein Kinderschädel aus der Slowakei. Aus Bulgarien sind eine Reihe von deformierten Frauen- und Männerschädel von protobulgarischen Gräberfeldern des 8./9. Jh. bekannt, vereinzelte Funde datieren bis in das 11. Jh. Aus dem mittelasiatischen Raum – Choresmien südlich des Aral-Sees – ist die Sitte der artifiziellen Schädeldeformation durch umlaufende Bandagierungen aus den literarisch-geografischen Werken mehrerer arabischer Reisender aus dem 10. und 12. Jh. bekannt.
Eingeheiratete Frauen aus dem Osten?
Die neuesten naturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Herkunft der Turmschädel aus den bajuwarischen Gräberfeldern der Völkerwanderungszeit deuten auf eine fremde Herkunft der Frauen aus dem südosteuropäischen Raum hin, obwohl sie nach lokalen Bestattungssitten und in lokaler Tracht beigesetzt worden waren. Davon ausgehend erscheint es naheliegend, dass auch die drei Frauen mit Turmschädeln von Gotland möglicherweise aus dem südosteuropäischen oder mittelasiatischen Raum nach Norden zugewandert sind. Enge Handelsverbindung zwischen Skandinavien und besonders Gotland in die osteuropäischen Gebiete und bis hinunter in das Schwarze und das Kaspische Meer sind für die Wikingerzeit durch archäologische Funde wie auch historische Quellen gut belegt.

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Körpermodifikationen der Wikingerzeit
Körpermodifikationen zur Inszenierung oder Präsentation einer bestimmten kulturellen, sozialen oder auch religiösen Identität oder schlicht als ästhetisch empfundener Körperschmuck waren somit vereinzelt auch in der Wikingerzeit üblich. Die sukzessive ans Licht kommenden archäologischen Befunde präsentieren jedoch ein ganz anderes Bild von Körpermodifikationen in der Wikingerzeit, als zu erwarten wäre. Die medial schon fest mit dem populären Bild des wilden Wikingerkriegers assoziierten Tätowierungen können zwar als wahrscheinlich angenommen, aber nicht zweifelsfrei belegt werden. Stattdessen lassen sich zwei unerwartete Formen von Körpermodifikation nachweisen. Die Sitte der Schädeldeformation gelangte durch einzelne Frauen mit Turmschädeln vermutlich aus dem südosteuropäischen Raum nach Norden, wurde dort aber wohl nicht aktiv ausgeführt. Die Zahnfeilungen sind hingegen bisher noch ohne bekannte Parallelen in Europa und müssen beim gegenwärtigen Forschungsstand als eigenständige Entwicklung der skandinavischen Wikingerzeit gewertet werden.
Zuerst veröffentlicht in der 'Archäologie in Deutschland' 06/18, S. 40–43.