Was aber wissen wir heute wirklich über die Wikinger – und vor allem, was wissen wir nicht? Woher kommt unser Wissen, welche Quellen haben wir und vor welche Probleme stellen uns diese Quellen? Wie bei wohl keiner anderen historischen Epoche klaffen bei der Wikingerzeit die populären Vorstellungen und das tatsächliche Fachwissen weit auseinander. Das Wissen über die Wikinger gleicht – nicht zuletzt aufgrund der langen Rezeptionsgeschichte seit der Nationalromantik – inzwischen einem Mythos, der sich mit jedem Film oder Roman, jeder Fernsehserie und jeder Diskussion im Internet stetig fortschreibt. Halbwahrheiten, Mutmaßungen und selbst reine Erfindungen aus Filmen und Fantasyromanen, mit denen die tatsächlich im Übermaß vorhandenen Leerstellen in unserem Fachwissen über die Wikinger gefüllt werden, erhalten durch ständige Wiederholung vorgebliche Legitimität und werden irgendwann zu gefühltem Allgemeinwissen. Sie werden zu Folklore im eigentlichen Wortsinn, völlig unabhängig von der tatschlichen wissenschaftlichen Faktenlage. So kommt es, dass im Internet eine Vielzahl von Informationen zu den Wikingern zu finden ist, die tatsächlich jedoch von keiner wissenschaftlichen Quellen gestützt werden. Recherchiert man den Ursprung dieser Informationen, stellt sich nicht selten heraus, dass sie bspw. für einen Fantasyroman erfunden, aber umgehend als historischer Fakt akzeptiert wurden.
Dazu kommt noch eine zusätzliche Problematik. In der altnordischen Literatur wird eine detailreiche und anschauliche, vorgeblich wikingerzeitliche Mythologie überliefert, die jedoch viel jünger als die Wikingerzeit ist. Trotzdem wird sie häufig in Filmen, Fernsehserien, Büchern und der Werbung als authentische Religion der Wikinger präsentiert. Das ist nur mehr als verständlich, denn zum einen wird selbst in vielen populären Überblickswerken über die Wikingerzeit nicht ausreichend zwischen authentischen, zeitgenössischen Quellen und den späteren Überlieferungen differenziert. Zum anderen sind diese Mythen und Legenden schlicht zu spannend und faszinierend, um sie im Rahmen der künstlerischen Freiheit nicht zu nutzen, zumal sie maßgeblich das heutige Wikingerbild geprägt haben.
Diese Vermischung von tatsächlichem historischem Wissen, späteren Überlieferungen und moderner Fan-Fiction führt jedoch leider oftmals zu Situationen, die sowohl für das interessierte Publikum wie auch für die Wissenschaft schwierig und enttäuschend sind. Viel zu oft kann die Wissenschaft auf berechtigte Fragen keine befriedigenden Antworten geben, einfach weil dazu schlichtweg die Quellen fehlen. Nicht selten haben sich rund um diese Leerstellen in unserem Wissen über die Wikinger aber moderne Mythen gebildet, die ein vorgeblich präzises und detailliertes Wissen suggerieren. So ist es nur schwer zu vermitteln, dass wir bspw. über die Glaubensvorstellungen der Wikinger eigentlich nur wenig sicher wissen, wo uns doch in Film und Fernsehen andauernd eine anschauliche und höchst lebendige Mythologie präsentiert wird. Die dürftige archäologisch-historische Quellenlage oder der Forschungsstreit um unsichere Aspekte wird da schnell als persönliche Wissenslücke oder akademische Ignoranz der Forscher ausgelegt.
Unser Wissen über die Wikingerzeit basiert im Grunde maßgeblich auf den archäologischen Funden: Mehreren zehntausend archäologisch untersuchten Gräbern im gesamten Siedlungsbereich der Wikinger, tausenden von Einzelfunden – Gegenständen, die verloren oder absichtlich deponiert wurden –, hunderten von ausgegrabenen Siedlungen und einigen wenigen Dutzend herausragenden Fundplätzen, wie z. B. den beiden frühstädtischen Siedlungen und Handelsplätzen von Birka im Mälarsee in Schweden und Haithabu bei Schleswig in Norddeutschland, die alle diese Fundarten im Übermaß vereinen. Die archäologischen Funde können Auskunft darüber geben, welche Materialien und (Handwerks-)Techniken bekannt waren, wie sie genutzt wurden und wie weit sie verbreitet waren. Aus ihnen lassen sich ebenso Rückschlüsse auf die – mitunter spektakulären – Handelsverbindungen und kulturelle Kontakte ziehen, wie auch auf ästhetische Konzepte und das Kunstverständnis. Siedlungs(be)funde erlauben Einblicke in den Alltag und die Lebens- und Wirtschaftsweisen, Ernährung und Hausbau. Die Skelette der damaligen Menschen können auf krankhafte Veränderungen und Gewalteinwirkungen in den Knochen hin untersucht werden und geben so Aufschluss über die Lebensbedingungen, Hygiene und Gewalterfahrung. Zudem können durch neue naturwissenschaftliche Verfahren wie bspw. DNA- oder Isotopenanalysen an Zähnen und Knochen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen einzelnen Individuen, Geschlecht und äußere Erscheinung, Ernährung sowie die Herkunft und damit auch Migrationsbewegungen untersucht werden.
Die archäologischen Funde bilden jedoch immer nur einen Ausschnitt der damaligen Lebenswelt ab. Anders als in der klassische Archäologie mit dem Glücksfall von Pompeji fehlt der wikingerzeitlichen Archäologie ein Fundplatz, der gewissermaßen in der Zeit eingefroren und vollständig erhalten wurde und an dem sich der Alltag der damaligen Menschen in allen Facetten nachvollziehen lässt. Unser archäologisches Wissen über die Wikingerzeit basiert demnach auf zwei Kriterien: Welche Gegenstände gelangten entweder unabsichtlich in den Boden, bspw. weil sie verloren gingen oder weggeschmissen wurden, oder wurden absichtlich im Boden deponiert, bspw. in Gräbern oder in Schatzdepots? Und was von diesen Gegenständen blieb über die Jahrhunderte hinweg aufgrund des Materiales und der Bodenbedingungen erhalten? Das zeigt sich exemplarisch an der Problematik der Kindergräber aus der Wikingerzeit. Obwohl anzunehmen ist, dass die Kindersterblichkeit bei etwa 30–40 % lag, fehlen auf den meisten Gräberfeldern der Wikingerzeit die Kindergräber entweder völlig oder sie sind massiv unterrepräsentiert. Offensichtlich wurden viele Kinder in der Wikingerzeit auf eine Art und Weise bestattet, die heute im archäologischen Befund nicht mehr fassbar ist. Vielleicht wurden sie verbrannt und die Asche verstreut, vielleicht wurden sie auch so begraben, dass die fragilen Knochen völlig vergangen sind. Das archäologisch fassbare Bild – fast ausschließlich erwachsene Individuen – spiegelt jedoch erkennbar nicht die historische Realität wider.
Zudem sind die archäologischen Funde nicht selbsterklärend, sondern sie müssen in ihrem Kontext betrachtet und interpretiert werden. Bereits die Zuordnung zu sozialen Gruppen oder Individuen ist oftmals schwierig: Wer nutzte diesen Gegenstand tatsächlich, wer fertigte ihn an? Welche Bedeutung hatte der Gegenstand neben oder über den rein praktischen Aspekt hinaus? Und war diese Bedeutung überall identisch? Lassen sich diese Fragen bei Alltagsgegenständen wie Tongefäßen, Holzgeschirr oder Werkzeug aus Siedlungen noch meistens relativ sicher beantworten, so ist die Deutung von Grabfunden – der größten Fundgruppe der wikingerzeitlichen Archäologie – um Längen schwieriger. Zum einen müssen auch bei Grabfunden die Erhaltungsbedingungen berücksichtigt werden. Lange nicht alles, was während der Bestattungszeremonie in der Wikingerzeit in ein Grab gelangte, ist bei der Ausgrabung über 1.000 Jahre später noch fassbar, selbst wenn es unbeschädigt in einer Körperbestattung deponiert und nicht auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Zumeist sind neben den Knochen der Toten nur noch anorganische Funde – vor allem Schmuck oder Waffen aus Metall oder Gefäße aus Ton – erhalten. Organische Stoffe wie Holz oder Textilien sind dagegen zumeist bereits völlig vergangen und nur in wenigen Einzelfällen weitestgehend vollständig erhalten. So kommt es, dass wir zwar ein sehr genaues Wissen über den Schmuck der Wikingerzeit haben; über Herstellung, Verzierung und Verbreitung von Perlen, Schmuckanhängern, bronze- und silberbeschlagenen Gürtelgarnituren und besonders von den als Gewandverschluss fungierenden Fibeln aus Bronze und Silber. Die tatsächliche textile Kleidung der Wikingerzeit – Farbe, Schnitte und Kombination verschiedener Kleidungsstücke – kann jedoch nur unter Vorbehalt rekonstruiert werden. Darüber hinaus muss die Kleidung, in der die Toten beigesetzt wurden, nicht zwangsläufig die reale Kleidung zu Lebzeiten widerspiegeln, auch wenn dies sicherlich häufig der Fall war. Anders als es auch lange Zeit in der Forschung angenommen wurde, stellen Gräber keine ‚Spiegel des Lebens‘ dar, die einen unverfälschten Blick auf die Lebensrealität der damaligen Menschen erlauben. Stattdessen sind Gräber das statische Endergebnis von bewussten Handlungen und dynamischen Prozessen. Während der Bestattungszeremonie wird der oder die Verstorbene nicht zwangsläufig in der Kleidung und mit den Gegenständen beigesetzt, die er oder sie im Alltag besaß oder am häufigsten verwendete. Stattdessen folgte die Auswahl der Gegenstände, die ihn oder sie ins Grab begleiteten und die wir als Archäologen Jahrhunderte später dann finden, religiösen, kulturellen, sozialen und auch politischen Kriterien: Was war notwendig für die sichere Reise ins Jenseits und das Leben nach dem Tod? Was erforderten Traditionen und Bräuche? Was war aus emotionalen Gründen wichtig für die Angehörigen und die Gemeinschaft? Wodurch konnte der oder die Verstorbene und in Folge auch die Angehörigen besonders vorteilhaft in Szene gesetzt und als wohlhabend oder einflussreich präsentiert werden? Ein Schwert in einem Grab bedeutet noch lange nicht, dass der Verstorbene damit auch tatsächlich gekämpft hat. Es kann bereits zu Lebzeiten als Symbol für Macht und sozialen Status oder Wohlstand getragen worden sein, ohne dass es jemals im Kampf eingesetzt wurde. Vielleicht gehörte es auch gar nicht dem Verstorbenen, sondern wurde ihm von seinen Angehörigen ins Grab gelegt, als Abschiedsgeschenk, Zeichen des Wohlstandes oder weil er es im Jenseits gebrauchen könnte. Im Gegenzug ist kein einziges Grab aus der Wikingerzeit bekannt, in dem der Verstorbene mit landwirtschaftlichem Werkzeug beigesetzt wurde, obwohl zweifelsohne der Großteil der Menschen damals Bauern waren. Gräber müssen daher gewissermaßen als absichtlich zusammengestellte Collagen betrachtet werden, bei denen sich verschiedenste Bedeutungsebenen überlagern können. Sie zeigen weder die Lebenswirklichkeit noch den Alltag der damaligen Menschen, sondern stattdessen – verzerrt durch Auswahl und Erhaltungsbedingungen – einen Ausschnitt des sozialen, kulturellen und religiösen Selbstverständnisses der wikingerzeitlichen Gesellschaft.
Diese Einschränkungen führen dazu, dass die Aussagekraft der archäologischen Funde lange nicht so klar und eindeutig ist, wie es oftmals dargestellt wird. Die Archäologie ist eng daher eingebunden in ein Netzwerk unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen, die ein besseres Verständnis der vorhandenen Quellen ermöglichen, von den klassischen Kulturwissenschaften wie Geschichts- und Sozialwissenschaften, Ethnologie und Numismatik bis hin zu Wirtschaftswissenschaften, Medizin und Pathologie sowie den MINT-Fächern. Von besonderer Bedeutung sind dabei neue technologische Methoden der sogenannten Archäometrie, der naturwissenschaftlichen Untersuchung archäologischer Funde und Befunde. Neben den bereits erwähnten DNA- und Isotopenanalysen sind dies bspw. Geomagnetik und Georadar, die es erlauben, mittels hochfrequenter elektromagnetischer Wellen Bodenstrukturen zu identifizieren und so Gräber oder Gebäude zu entdecken. So wurden vor kurzem in Norwegen mittels Bodenradar mehrere Schiffsgräber der Wikingerzeit entdeckt.
Für die Erforschung der Wikingerzeit ist zudem die altnordische Sprach- und Literaturwissenschaft besonders wichtig, da eine Reihe von sowohl zeitgenössischen und späteren sowie autochthonen und externen Schriftquellen über die Wikinger berichten.
Aus einer außer-skandinavischen Perspektive sind dies primär zeitgenössische fränkische und angelsächsische Chroniken und Annalen, die zumeist von den Überfällen und Raubzügen der Wikinger berichten. Sie sind oftmals sehr knapp gehalten und enthalten kaum mehr Informationen als eine Jahreszahl und eine kurze Beschreibung des jeweiligen Ereignisses. Deutlich detaillierter sind die individuellen Aufzeichnungen einiger Geistlicher, wie die eingangs zitierten Briefe Alkuins. Als erste Leidtragende der wikingerzeitlichen Expansion waren die christlichen Mönche und Chronisten in den Schreibstuben der fränkischen und angelsächsischen Klöster allerdings alles andere als neutral und es ging ihnen verständlicherweise nicht um eine wissenschaftlich-objektive Beschreibung der Wikinger. Daher sind diese Quellen mit äußerster Vorsicht und immer unter Berücksichtigung ihres Hintergrundes zu lesen. So waren es vor allem die Schändungen ihrer heiligen Stätten – wie die Nutzung der Aachener Pfalzkirche als Pferdestall 881 –, der Mord an ihren Brüdern in Christo und der Raub von Kirchengütern, der für sie so schockierend war, dass darüber in den Chroniken berichtet werden musste. Überfälle auf kleinere Siedlungen oder lokale Handelsplätze waren dagegen für sie nicht so bedeutsam. Dies führte dazu, dass die fränkischen und angelsächsischen Quellen bereits durch die Auswahl der überlieferten Ereignisse das verzerrte Bild eines religiös motivierten Kampfes der Wikinger gegen die Christenheit zeichneten.
Wesentlich nüchterner und objektiver erscheinen dagegen die Überlieferungen in den Reiseberichten arabischer Diplomaten und Gelehrter, die vor allem im 10. Jahrhundert in Kleinasien, Osteuropa und vereinzelt sogar in Nordeuropa mit den Wikingern in Kontakt kamen. Ihre Berichte sind teilweise sichtbar getrübt durch vereinzelte sprachliche Missverständnisse oder die kulturelle Prägung der Autoren; etwa wenn Ibrāhīm ibn Yaʿqūb aṭ-Ṭurṭūšī, ein jüdische Gesandter des Kalifen von Córdoba, der Mitte des 10. Jahrhunderts den Handelsplatz Haithabu nahe des heutige Schleswig besuchte, den Gesang der Wikinger mit dem Bellen von Hunden verglich oder Aḥmad ibn Faḍlān, ein arabischer Diplomat, der im Jahr 922 am Hof der Wolgabulgaren im heutigen Russland einigen Nordmännern begegnete und diese als die schmutzigsten Kreaturen auf Gottes Erde bezeichnete, weil sie sich weder nach dem Toilettengang noch nach dem Essen oder dem Geschlechtsverkehr die Hände wuschen. Auch sind ihre Berichte nicht völlig frei von politischer oder religiöser Propaganda, wenn sich bspw. Aḥmad ibn Faḍlān damit rühmt, als Missionar viele Heiden zum Islam bekehrt zu haben. Anders als den christlichen Chronisten war den arabischen Gelehrten jedoch durchaus daran gelegen, ihre Erlebnisse weitestgehend objektiv und teilweise auf eine fast wissenschaftlich präzise Weise zu beschreiben. Diese Augenzeugenberichte von Menschen, die direkten Kontakt mit den Wikingern hatten, sind daher trotz aller oben angeführten Einschränkungen unschätzbar wertvolle Quellen für die Forschung.
Die beiden sicherlich bedeutendsten Gruppen an Schriftquellen, die für die Erforschung der Wikingerzeit herangezogen werden müssen, stammen aus Skandinavien und sind Gegenstand der altnordische Sprach- und Literaturwissenschaft.
Die eine Gruppe sind Inschriften in altnordischen Runen, den wikingerzeitlichen Schriftzeichen, zumeist auf Runensteinen, von denen im 10. und besonders im 11. Jahrhundert in Skandinavien mehrere tausend Stück errichtet wurden. Der Großteil dieser Runensteine trägt stark formalisierte Gedenkinschriften zur Erinnerung an einen Verstorbenen, die kaum mehr Informationen enthalten als dass eine bestimmte Person diesen Runenstein zum Gedenken an seinen Vater/Bruder/Sohn oder Freund errichtet hat. Einige Inschriften sind jedoch ausführlicher und erlauben bspw. Rückschlüsse auf das komplizierte Erbrecht der Wikingerzeit, auf den Vorgang der Christianisierung oder auch auf die Stellung der Frau. So wurden nicht wenige Runensteine von Frauen gestiftet, die dadurch zum einen als durchaus selbstbestimmte, emanzipierte Protagonisten und zum anderen als treibende Kräfte bei der Christianisierung Skandinaviens fassbar werden. Trotz der oftmals sehr kurzen, lakonischen Texte sind die Inschriften auf den Runensteinen die wichtigsten Schriftquellen für die Wikingerzeit. Sie wurden nicht nur von den Wikingern selbst verfasst, sind damit also sowohl autochthone wie auch zeitgenössische Dokumente, sondern sie ermöglichen es, sich den individuellen Menschen hinter dem Schlagwort ‚Wikinger‘ zu nähern. So lässt z. B. der Runenstein aus dem schwedischen Härlingstorp nicht nur zwei reale, historische Personen aus dem Dunkeln der Geschichte treten, sondern offenbart auch eine persönliche Tragödie. Die Inschrift lautet: „Tola ließ diesen Stein errichten nach Geir, seinem Sohn, einem guten und ehrenvollen Mann. Er starb auf Viking im Westen“ (: tula : sati : sten : þ... ...[iR kR : sun] : sin : harþa × kuþon : trok : sa × uarþ : tuþr : o : uastr:uakm : i : uikiku :). Offensichtlich wurde dieser Runenstein von einem trauernden Vater errichtet, in Gedenken an seinen auf Raubzug gefallenen Sohn, einen Wikinger im eigentlichen Wortsinne, wie die Inschrift mit dem Begriff víking belegt.
Einen noch persönlicheren, lebendigeren und vorgeblich auch detaillierteren Zugang zur wikingerzeitlichen Mentalität, zu Glaubensvorstellungen und dem Alltagsleben scheint die altnordische Literatur zu bieten. Zum einen sind dies die Isländersagas: Geschichten von Familienfehden und großen Schlachten, aber auch von Freundschaften und Liebe, die in Norwegen und vor allem auf Island zur Wikingerzeit spielen. Durch den Erzählstil und den hohen Detailreichtum wirken sie wie realistische Schilderungen des wikingerzeitlichen Alltags und wurde lange Zeit auch in der Forschung als verlässliche Quelle betrachtet. Niedergeschrieben wurden diese Sagas jedoch erst Jahrhunderte nach den geschilderten Ereignissen, zumeist im 13. und 14. Jahrhundert und es ist oftmals völlig unklar, wie viel auf tatsächlichen historischen Ereignissen beruht und was spätere Fiktion ist. Die Isländersagas – wie z. B. die Geschichte vom starken Grettir (die Grettis saga Ásmundarsonar), der aufgrund einer Kombination von jähzorniger Gewaltbereitschaft und unglücklichen Umständen sein Leben als Geächteter verbringen muss oder die Geschichte von dem Skalden (Dichter) und Wikinger Egill (die Egils saga Skallagrímssonar) – können daher am ehesten als eine Art historische Romane betrachtet werden, in denen Überlieferungen zu realen Ereignissen und historischen Personen mit literarischer Fiktion vermischt wurden. Trotzdem erlauben sie wertvolle Einblicke in die wikingerzeitliche Mentalität und können in Einzelfällen sogar wichtige Erkenntnisse zu konkreten historischen Ereignissen liefern: So ermöglichten die Beschreibungen in den beiden sogenannten Vinland sagas – der Saga von den Grönländern (Grænlendinga saga) und der Saga von Erik dem Roten (Eiríks saga rauða) – die von der Entdeckung und Besiedlung Grönlands berichten, die Entdeckung des wikingerzeitlichen Siedlung bei L’Anse aux Meadows an der Küste Neufundlands durch die norwegischen Archäologen Helge und Anne-Stine Ingstad und belegten so, dass die Wikinger tatsächlich bis nach Nordamerika gekommen waren. Zum anderen ist dies die berühmte altnordische Mythologie mit den beiden, als Edda bezeichneten Überlieferungen. Dabei handelt es sich zum einen um eine Sammlung von Liedern über Götter und Helden, die sogenannte Lieder-Edda, und zum anderen um eine Nacherzählung vieler dieser Mythen in Prosaform der sogenannten Snorra-Edda, benannt nach ihrem Verfasser, dem berühmten altisländischen Skalden, Gelehrten und Politiker Snorri Sturluson (1179–1241). In diesen beiden Quellen wird eine enorme Fülle von spannenden und faszinierenden Geschichten zur altnordischen Mythologie und zur vorgeblichen ‚Religion‘ der Wikinger überliefert; vor Details und anschaulichen Bildern nur so strotzende Legenden über die altnordischen Götter und legendäre Helden der Vorzeit. Diese Überlieferungen wurden jedoch erst Jahrhunderte nach der Wikingerzeit niedergeschrieben. Bei vielen dieser Mythen und Legenden ist daher überhaupt nicht sicher, ob sie tatsächlich aus der Wikingerzeit stammen oder erst viel später bei der Niederschrift der Texte erfunden wurden. So war Snorri Sturluson bspw. gar nicht daran interessiert, eine Art ‚Bibel‘ der wikingerzeitlichen Glaubensvorstellungen zu überliefern. Seine Edda war in Wahrheit ein Lehrbuch für angehende Skalden und er verwendete die alten Mythen, um damit die Dichtkunst zu veranschaulichen. Dennoch sind auch die altnordischen Mythen wichtige Quellen für die wikingerzeitliche Archäologie, wenn man ihre Überlieferungssituation berücksichtigt und sie nicht unkritisch als authentische Beschreibungen einer dogmatischen ‚Religion‘ der Wikinger betrachtet. Viele dieser Mythen können jedoch helfen, archäologische Funde oder Befunde zu kontextualisieren und besser zu verstehen. Gleichzeitig kann im Umkehrschluss die Archäologie Belege dafür aufspüren, dass einzelne Mythen durchaus schon in der Wikingerzeit bekannt waren. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich Mjölnir (Mjǫllnir), der Hammer des Donnergottes Thor (Þórr), der oft in den mythologischen Quellen erwähnt wird. Weit über 100 Exemplare von kleinen Hämmern aus Bernstein, Eisen, Bronze oder Silber und mehrere Abbildungen auf Runensteinen belegen, dass Thor in Übereinstimmung mit den späteren Quellen tatsächlich der wohl wichtigste Gott der Wikinger war.
Diese Kombination von einem extrem reichhaltigen archäologischen Fundmaterial, zeitgenössischen schriftlichen Quellen und diesem faszinierenden Korpus der späteren (mythologischen) Überlieferungen macht die Wikingerzeit sicherlich einzigartig. Gleichzeitig führt es dazu, dass die Erforschung dieser Epoche wissenschaftlich enorm fordernd aber auch sehr vielseitig und abwechslungsreich ist, da eine ganze Reihe unterschiedlichster Disziplinen – Archäologie, Geschichtswissenschaft, Naturwissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft – berücksichtigt werden müssen. Wir haben damit eine wahre Fülle an Quellen zur Verfügung, die es uns ermöglichen, ein Fenster in die Wikingerzeit zu öffnen. Das Bild, das sich uns dabei bietet, ist jedoch weder vollständig noch statisch. Neue archäologische Funde, neue kulturwissenschaftliche Theorien und neue naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden erlauben nicht nur neue, teilweise kontroverse und hitzig diskutierte Ergebnisse, sondern auch völlig neue Fragestellungen, mit denen wir dieses Fenster in die Wikingerzeit weiter öffnen können. Sicher ist dabei nur, dass die Erforschung der Wikingerzeit noch lange nicht abgeschlossen ist und wir immer nur von unserem aktuellen Wissensstand aus diskutieren können.