Rund um die mutmaßlich ursprünglich heidnische Herkunft unseres heutigen Weihnachtsfestes und die Bedeutung des altnordischen Júl-Festes hat sich mittlerweile ein dichtes Geflecht von Mythen, Halbwahrheiten und religiösen wie politischen Entfremdungen (und auch Missbräuchen) gelegt.
Archäologischer Fakt ist, dass wir so gut wie gar nichts über Júl/Jól – ‚das Weihnachten der Wikinger‘ – wissen. Nahezu alle Quellen, die uns dazu vorliegen, stammen aus späterer (und damit christlicher) Zeit und geben folglich nicht zwangsläufig ein realistisches Bild wieder. Zudem wurde in der Nationalromantik und später im Nationalsozialismus ein in Teilen bis heute nachwirkender Weihnachtskult inszeniert, durch den die nationalsozialistische Propaganda in vorgeblichen Traditionen verankert und über die positive Konnotation mit Weihnachten als gewissermaßen ‚natürlich‘ dargestellt werden sollte (dazu gibt es hier einen schönen Beitrag im Deutschlandfunk mit einem Interview mit Prof. Rudolf Simek).
Die wichtigste Quelle zu dieser Frage ist vermutlich das Ende des 9. Jh. entstandene Haraldskvæði, das von dem Skalden Þorbjörn hornklofi verfasste Preislied auf den norwegischen König Haraldr hárfagri und dessen Taten in der Schlacht am Hrafsfjord im Jahr 872.
In der sechsten Strophe heißt es dort:
6. Úti vill jól drekka,
ef skal einn ráða,
fylkir enn framlyndi,
ok Freys leik heyja;
ungr leiddisk eldvelli
ok inni at sitja,
varma dyngju
eða vǫttu dúns fulla.
"Der König beschloss, auswärts Jul zu trinken, Harald, der Kühne, hastete herbei zu Freys Spiel. Stets wurden ihm leid, das Hocken am Herd, die warme Stube der Frauen, und Daunenhandschuhe." (Übersetzung nach Hans-Jürgen Hube)
Aus der Strophe lässt sich entnehmen, dass es üblich gewesen zu sein scheint, in der Halle (des Herrschers) ein Júl-Trinken zu veranstalten und König Harald dieser Tradition überdrüssig war. Wie dieses Júl-Trinken jedoch konkret aussah und ob es auch abseits des norwegischen Königshofes veranstaltet wurde, bleibt ebenso unklar wie die Formulierung von „Freys Spiel“, das von manchen Forschern als Umschreibung für Kampf und von anderen als Ritual oder Opfer gedeutet wird. Allerdings war das gemeinsame Trinken in der Wikingerzeit (wie auch in den vorangehenden Epochen) nicht bloß ein rein geselliges Zusammenkommen, sondern hatte auch immer wichtige sozio-politische und auch religiöse Funktionen. Das gemeinsame rituelle Trinken von Bier oder Met verstärkte die sozialen Bindungen der Menschen untereinander. Abmachungen und Schwüre zu Allianzen und Gefolgschaften, aber auch zu Heiraten, wurden durch das gemeinsame Trinken besiegelt, und der lokale Anführer konnte durch die Ausrichtung besonders aufwändiger Mahlzeiten Macht und Reichtum demonstrieren. Zudem wissen wir aus archäologischen Befunden – nicht zuletzt auch aus Gräbern – dass die übliche Form des Opfers in der Wikingerzeit Opfermahlzeiten oder Trankopfer waren, kollektive rituelle Mahlzeiten, bei denen den Göttern ein Teil der Speisen und Getränke dargebracht wurde und man auf Frieden, Wachstum und Wohlstand anstieß.
Ausgehend von den wenigen verfügbaren Quellen können wir mutmaßen, dass Júl/Jól in der Wikingerzeit zuerst einmal ein großes Fest war, bei dem man in den dunkelsten Wochen des Jahres zusammenkam, gemeinsam speiste und vermutlich auch auf die Götter und ein gutes neues Jahr anstieß. Ob dieses Júl-Fest tatsächlich zum festen Jahreskreis des gesamten Kulturraumes der Wikinger gehörte und auf einem Bauernhof in Dänemark oder Schweden ebenso gefeiert wurde, wie am norwegischen Königshof, bleibt jedoch ungewiss.
Das genaue Datum dieser Júl-Feier ist jedoch ähnlich unklar und ebenso ideologisch verklärt. Der isländische Skalde und Gelehrte Snorri Sturluson schrieb im 13. Jh., dass das heidnische Júl-Fest zu Mittwinter stattgefunden hätte. Es ist aber unklar, ob damit die astronomische Mittwinternacht – also rund um den 22. Dezember – oder die Mitte des Winters – also Mitte Januar – gemeint war. Die in neuheidnischen Kreisen zirkulierende These, das christliche Weihnachten wäre bewusst auf das Datum des heidnischen Júl-Festes gelegt worden, um quasi den heidnischen Kult zu christianisieren, ist allerdings falsch. Das christliche Weihnachtsfest – das sich tatsächlich ausgehend von der Bibel nicht datieren lässt – wurde bereits in der Spätantike im 4. Jh. auf den 25. Dezember gelegt. Ausschlaggebend war also sicherlich kein germanisches Júl-Fest, sondern vermutlich eher das Fest des römischen Reichsgottes Sol Invictus, das seit Ende des 3. Jh. an diesem Datum gefeiert wurde.
Wenn wir also heutzutage zu Weihnachten mit Familie und Freunden zusammenkommen, feiern wir sicherlich kein dezidiert heidnisches Fest. Die Tradition, sich in den dunkelsten Wintertagen zu einem Fest zu treffen und auf ein gutes neues Jahr anzustoßen, reicht jedoch weit zurück und scheint auch in der Wikingerzeit üblich gewesen zu sein!